Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Wengen, 4. August.

Die Wiener «Arbeiter Zeitung», jetzt das vernünftigste Blatt Österreichs, schreibt in ihrem Artikel zum dritten Jahrestag des Kriegs (1. Aug. 1917).

«Die Empfindung will nicht weichen, dass ein kräftig aufrichtiges Wort, in Berlin gesprochen, allem aufgedonnerten Widerstreben der Gegner zu Trotz, seiner Wirkung gewiss wäre. Daran fehlt es, das ist noch nicht vernommen worden, und diese halben Zusagen, von denen der nächste Satz die Hälfte wieder zurücknimmt, schaden mehr als sie nützen. Vergleiche man doch die Rede Czernins mit der Rede des neuen Reichskanzlers, und man wird den Unterschied rasch inne werden. Für den Grafen Czernin ist der Verständigungsfrieden ein erstrebenswertes Ideal, nicht etwa notgedrungen, sondern aus der Erkenntnis, dass nur aus ihm die gepeinigte Menschheit die friedliche Kraft empfangen kann, die sie befähigen wird, die Wunden zu schließen, die grausamen Folgen des Krieges zu überwinden, ist der österreichisch-ungarische Minister für den Frieden, der alle Vergewaltigungen ausschließt und nur dem übereinstimmenden Willen aller Teile entspringt. In Berlin hat sich diese Erkenntnis noch lange nicht durchgesetzt; dort erachtet man den Verständigungfrieden noch immer als ein Übel, mit dem man sich, wenn es nicht anders geht, vielleicht abfinden mag, der aber von dem, was man eigentlich will und anstrebt, meilenweit entfernt ist. Graf Czernin spricht frank und frei vom Verständigungsfrienden; in Berlin bringt man das Wort nicht über die Lippen. Deswegen üben diese Erklärungen keine werbende Kraft aus; ihnen fehlt der Klang des Aufrichtigen, des Überzeugenden; kaum ausgesprochen, verwehen sie und das allgemeine Missbehagen, zu Hause und beim Gegner, folgt ihnen auf dem Fuß. Mit der Methode, die immer nur daran denkt, unbestimmte, auslegungsfähige Wendungen zu produzieren, die die Annexionsschwärmer beruhigen sollen, ist der dichte Nebel, der sich zwischen die kriegführenden Völker gesenkt hat, nicht zu bannen. Sie verstärkt ihn eher. Die Empfindung lässt sich nicht verscheuchen, dass man den Frieden dennoch haben könnte, wenn man ihn nur, und ihn über alles, haben wollte, und dass es, wenn er nicht kommt, er in immer weitere Ferne rückt, wohl darin seinen Ursprung haben wird, dass man ihn nicht so will, als man ihn wollen müsste.»

Aus diesen Worten spricht deutlich und klar die volle Erkenntnis der Situation. Die Interessen Öster.-Ungarns und Deutschlands sind nicht mehr dieselben. Die Staatsmänner der Donaumonarchie erkennen die Forderung der Stunde, die Staatsmänner des Reichs verkennen sie noch immer. Österreich-Ungarn will sich demokratisieren, will den Wahnsinn des Kriegs den Garaus machen durch Eingehen auf eine Weltorganisation, in Deutschland spielt man noch mit dieser Idee, will man ihren Schein, aber man glaubt nicht daran.

Das deutsche Volk kann den Krieg noch eine Zeit lang weiter führen, ohne fürchten zu müssen, daran zu verbluten. Seine Wirtschaftskraft war größer als die Österreich-Ungarns, seine nationale Entwicklung gab ihm auch eine moralische Widerstandskraft, die sich bei dem nationalgemischten Donaureich nicht im gleichen Maß entwickeln konnte. Die Grenze des Könnens ist für beide Staaten nicht gleich. Für Österreich-Ungarn ist der Punkt überschritten, wo die Fortführung des Kriegs noch Aussichten auf Vorteil bringen kann. Es ist die Pflicht des stärkeren Genossen, auf die Kräfte des Schwächeren Rücksicht zu nehmen. Deutschland muss nachgeben, muss mit eiserner Hand gegen seine Alldeutschen und Annexionisten vorgehen, muss sie, die sein eigenes Dasein gefährden, unschädlich machen, muss den Forderungen nach Demokratisierung nachgeben, muss in unzweifelhaft ehrlicher Weise seine Zustimmung zu einer die künftige Gewaltanwendung ausschließenden Staatenorganisation geben und so vor Eintritt dieses Winters den Frieden in der Welt herstellen, oder Österreich-Ungarn muss sich vom Reich trennen. Das erfordert das Lebensinteresse der Monarchie!

Ein militärischer Sieg der von der ganzen Welt umschlossenen Zentralmächte erscheint ausgeschlossen. Die Widerstandfähigkeit der beiden Reiche ist wohl so groß, dass ihre Niederwerfung auf Jahre hinaus nicht möglich erscheint. Immerhin ist es wohl ausgeschlossen, dass bei einer Verlängerung des Kriegs bis zur Heranwerfung der amerikanischen Kriegsmaschinerie, die Aussichten eines Verständigungsfriedens, der heute noch möglich ist, schwinden, und der Krieg durch eine Niederlage der Zentralmächte beendet wird. Eine solche Niederlage ist für Deutschland ein schwerer Schlag, aber immerhin ein Schlag, der eine spätere Erholung möglich macht. Für Österreich-Ungarn bedeutet die Niederlage jedoch die Vernichtung. Deutschland wird bestehen bleiben, aber die Donaumonarchie zerfällt. Für sie ist daher die Frage nach einem rechtzeitigen Friedensschluss keine Frage des Ansehens oder des mehr oder weniger großen Vorteils, sondern eine Daseinsfrage. Dieses Risiko darf ein lebensfähiges, mit den besten Aussichten für die Zukunft versehenes Staatswesen von fünfzig Millionen Einwohnern nicht eingehen. Jedes Zaudern wäre Verbrechen. Hier muss es heißen: auf — auf. Entweder sofortiger Frieden im Verein mit Deutschland, oder die Sicherung des Daseins auf eigene Faust. Lostrennung von einem Deutschland, dass die Forderung der Stunde nicht hören will, und die Ambitionen einiger irregeleiteter Narren höherstellt als das Lebensinteresse der verbündeten Monarchie.