Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 27. Oktober.

Die «Vereinigung deutscher Maiblumenzüchter» hat an den Reichskanzler eine Eingabe gerichtet, worin sie um das Verbot von aus dem Ausland stammenden Blumen ersucht, die in grossen Mengen durch die Schweiz nach Deutschland gelangen. Ein Bericht über dieses Vorgehen fügt Folgendes hinzu:

«Ein Weg, den bedrängten vaterländischen Maiblumenzüchtern zu Hilfe zu kommen, wäre vielleicht der, die Hilfe der Blumenliebhaber in dem Sinne in Anspruch zu nehmen, dass sie beim Kauf auf die Zurückweisung fremdländischer Blumen halten und dafür nach Möglichkeit sich der in so reichem Maße erzeugten zierlichen vaterländischen Maiblume bedienen. Besonders bei der Beschenkung von Verwundeten und bei der Ausschmückung von Lazaretten, Genesungsheimen und Festräumen dürfte der Gedanke, dass französische und italienische Blumen zur Verwendung kommen, peinlich sein». —

Peinlich? — Doch nur für chauvinistisch tief korrumpierte Seelen. Was ist das für himmelschreiende Begriffsverwirrung, die zwischen vaterländischen und feindländischen Blumen unterscheidet. Was soll mit dem Wind geschehen, der über England und Frankreich zu uns herüberweht, was mit der Wolke, die sich aus feindländischen Dünsten gebildet hat und nun vaterländischen Boden benetzt? Oder gar mit «deutschen Wolken», die sich vermessen, fremdländische Äcker zu beregnen? Dieser patriotische Merkantilismus, der uns vorrechnet, wieviel Mark und Pfennige der heimischen Arbeit gewonnen werden können, wenn man ausländische Ware ausschliesst, übersieht, welches Kapital an Sittlichkeit unserem Volke durch solche Massnahmen verloren geht. —

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In Berlin hat sich eine «Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungspolitik» gebildet, die unter Assistenz hoher Würdenträger ihre erste Sitzung abhielt. Man will durch eine Menge nützlicher Massnahmen mehr Menschen erzeugen lassen und die erzeugten besser erhalten. Hier wird das Pferd am Schwanze aufgezäumt. Jede vernünftige Bevölkerungspolitik muss mit der Bekämpfung des Krieges beginnen, nicht damit, sich in den Dienst des Krieges zu stellen. Bei der ersten Versammlung wurde gleich von hoher militärischer Seite auf die grosse Bedeutung der Gründung der neuen Gesellschaft «für die Wehrkraft der Nation und für die Landesverteidigung» hervorgehoben. Es ist ein Wahnsinn, eine Verhöhnung aller Vernunft, Menschen züchten und sorgfältig aufziehen zu wollen, um sie dann in der Blüte ihrer Jahre hunderttausendweis von den mit grösster Raffiniertheit konstruierten Massenmordmaschinen wegraffen zu lassen. Das sind die Grundsätze der Viehzucht, nicht die der Menschenzucht. Wir brauchen keine Massenproduktion von Menschen, brauchen nicht, wie Goldscheid treffend sagt, «die unfruchtbare Fruchtbarkeit» des Weibes, nicht die für die Schlacht gemästete und dressierte Massenware, sondern Edelzucht und Erhaltung der Geborenen. Wenn der Besitz von Kindern eine moralische und religiöse Pflicht ist, wie bei der erwähnten Sitzung der neuen Gesellschaft der konservative Reichstagsabgeordnete Dr. v. Heydebrand erklärte, dann muss man auch als eine noch viel höhere Pflicht die Heiligkeit und Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens sichern, die Garantie bieten, dass die mit Mühe und Entsagung aufgezogenen Kinder nicht nach dem Belieben einer geheim waltenden Diplomatie im Blütealter einem politischen Dogma geopfert werden dürfen. Heute ist der Besitz in allen Kulturländern heilig und sicher; das Leben der Bürger nicht! Mein Haus ist geschützt vor gewaltsamem Eingriff, das Leben meiner Kinder nicht!

Dieser Widersinn muss verschwinden. Eine Bevölkerungspolitik kann vernunftgemäss nur betrieben werden durch eine energische Antikriegspolitik. Man kann an diesem Problem nicht mehr mit geschlossenen Augen vorübergehen. Das war möglich vor dem 1. August 1914, es wird zur lächerlichen Karrikatur nach diesem Datum. Der Hinweis auf die Menschenproduktion der Feinde ist lachhaft! Es gibt fortab keine anderen Feinde als jene, die an die Unmöglichkeit der Eliminierung des Krieges glauben machen wollen, die nicht mit ihrem ganzen Sein nur das eine Ziel verfolgen: Ausschaltung des Krieges. Das ist der Feind. Alle andern sind Bundesgenossen.

Es muss allgemein als Wahnwitz erkannt werden, das Leben nach den Erfordernissen des Krieges einzurichten. Der Krieg ist keine Notwendigkeit. Es liegt in der Hand des Menschen, ihn zu überwinden. Nur einen Teil der Organisation und des Kraftaufwandes, die heute dem Kriege dienen, für dessen Beseitigung eingesetzt, und er ist überwunden. Eine Bevölkerungspolitik mit dem Krieg als Grundlage, sogar als dessen Hilfsmittel betrieben, ist Verbrechen an der Menschheit. Wir danken für diese gutgemeinte Förderung. Im übrigen ist sie auch ganz vergeblich. Die Natur lässt sich nicht vergewaltigen, nicht in künstliche Reglements einschnüren. Der europäische Massenmord von 1914/15 wird sich durch eine fürchterliche Menschenarmut rächen, der durch mildtätige Ratschläge und noch so strenge Verbote nicht zu steuern sein wird.