Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 2. Februar.

Linier dem Trommelwirbel der Schlosswache ist in Berlin der verschärfte Kriegszustand verkündet worden. Das Standrecht also. Sicherlich werden die Streiks verschwinden . Die Symptome werden so verlöscht. Aber die Tatsache der Auflehnung gegen den Krieg und die Bitterkeit, die sie bewirkte, wird dadurch nur verstärkt. Von der «ungebrochenen Kampfestreude», von der der Reichskanzler noch in seiner Rede vom 24. Januar sprach, wird man nach diesem Trommelwirbel nicht mehr sprechen können. Es brennt in allen Völkern. Die Militaristen decken das Feuer zu und glauben, es erstickt zu haben.

Am kindischsten ist der Vorwurf unpatriotischen Gebahrens, den man den Verzweifelten macht, die aus Hunger und Not zur einzig ihnen möglichen Gegenwehr der Arbeitseinstellung schreiten. Soll man einem Ertrinkenden zurufen, es sei unanständig, das Wasser auszuspeien, das sein Inneres bereits erfüllt? Kindisch ist der Vorwurf, dass die streikenden Arbeiter ihren Brüdern an der Front in den Rücken fallen. Das ist so echt militaristische Logik. Es wird eine Phase eines im vollen Gang befindlichen Prozesses herausgerissen, grell bedeutet und als unabänderliches und endgültiges Geschehnis hingestellt. So geschieht es auch bei den Berichten über ungünstig verlaufene Gefechte. Eine Episode daraus, die günstig war, die allein wird berichtet. Und so ist es mit dem Vorwurf des In-den-Rücken-Fallens. Gewiss, die erste Wirkung des Streiks lässt vermuten, dass man die Front im Stich lässt, dass man die Brüder im Rücken bedroht. In Wirklichkeit ist das nur eine Etappe auf dem Weg zur Befreiung ihrer Brust, zu ihrer Befreiung aus dem tiefsten Elend des vierjährigen Moraslkriegs.

Der Militarismus hat seine Einrichtungen so getroffen, dass man überall, wo man sich gegen ihn wehrt, Einrichtungen, Überlieferungen, Empfindungen verlebt, die einem heilig sein sollen. Rückt man ihm zu Leibe, dann schreien seine Priester auf: «Seht, wie sie sich gegen alles Heilige vergehen.» — Aber das ist unwahr, unwahr wie alle goldbetretzte Beweisführung. Nicht gegen das, was allen heilig ist, richtet sich der Vorstoß, nicht gegen Vaterland, Brüderlichkeit, Heimat, Familie, sondern gegen jene Einrichtung, die die Menschheit bedrückt und vernichtet, die sich aber mit all diesen Begriffen des Edelsinns und der Wohlanständigkeit panzert. Es ist dies die Methode alles Parasitentums in der Natur, dass sich dieses zum eigenen Schub einnistet an Stellen, die der von den Parasiten heimgesuchte Organismus aus Selbsterhaltung zu schützen gezwungen ist. So muss der vom Parasitismus heimgesuchte Körper jenen Schädling, der ihm am Marke saugt, nähren und schützen, wenn er nicht selbst zu Grunde gehen will. Die Nutzanwendung dieser Erkenntnis aus den Naturvorgängen auf unser soziales Leben ist klar.

Wenn man den Generalen, die unter ungeheuren Opfern an Menschenleben die schwerste Offensive unternehmen, zurufen wollte: «Ihr handelt vaterlandslos, ihr zerstört doch die Familie, raubt zu hunderttausenden den Kindern und Frauen die Ernährer, den Eltern die Hoffnung, so würden sie den Mahner verlachen und den Vorwurf mit dem Hinweis auf den höheren, oder ihnen höher erscheinenden, Zweck, Vaterland, Weltstellung und Zukunft der Nation usw. zurückweisen. Mit größeren Recht können dies die streikenden Arbeiter tun, denen man den Vorwurf des Verrats an den Volksgenossen macht, wenn sie durch Streiks zur Kriegsbeendigung gelangen wollen.