Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 23. September.

Wie sehr das Eroberungsverlangen die Geister verwirrt, beweist ein kniffliger und tiftelnder Aufsatz über «Annexionen», den der Geheime Regierungsrat Dr. Zacher in Berlin soeben in der «München-Augsburger-Zeitung» vom 14. September veröffentlicht. Er schreibt:

«Selten wohl ist mit einem missverstandenen Fremdwort so viel Verwirrung angerichtet worden, wie mit dem Ausdruck ,Annexionen’ im gegenwärtigen Meinungsstreit über die sogenannten Kriegsziele. Nach dem üblichen Sprachgebrauch hat ,annektieren’ die üble Nebenbedeutung des rechtswidrigen Wegnehmens erhalten, während die einfache Verdeutschung lediglich bedeutet: eine Sache mit einer andern verbinden, im Sinne von anfügen oder angliedern. Bei im Kriege besetzten und festgehaltenen Gebieten kann aber von einer rechtswidrigen Wegnahme im obigen Sinn sein. Hier spricht man folgerichtig von dem Recht des Eroberers, der ein den veränderten Machtverhältnissen angepasstes neues Recht schafft. Wie die geschichtliche Entwicklung lehrt, ist nichts in der Welt unveränderlich, am allerwenigsten die Abgrenzungen, Machtverhältnisse und Einflusssphären der Völker untereinander; die Entwicklung steht niemals still, sie zeigt uns ein stetes Auf und Ab, ein beständiges Werden und Vergehen. Sobald in dem natürlichen Wettkampf und Widerstreit der Völker Macht und Recht auseinanderfallen und dieses durch jenes nicht mehr gedeckt wird, kommt es zu Veränderungen, die bald in friedlichen, bald in kriegerischen Auseinandersetzungen ihre neuen Formen und Festsetzungen erhalten. Je schärfer der Druck nach solchen Veränderungen sich geltend macht, um so häufiger kommt es zu kriegerischen Lösungen.»

Dieses «neue Recht», mit dessen Schöpfung jetzt Berliner Professoren das deutsche Volk betören wollen, ist leider das urälteste Recht der Wildheit, wo lediglich die brutale Kraft für die Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen massgebend war. Dieses alte Recht heute neu einführen wollen, heisst unsere Kultur vernichten und uns zu Menschenfressern herabdrücken. Wenn dieses «neue Recht» in Belgien oder in Kurland gelten soll, so ist es nicht einzusehen, warum es nicht auch in Deutschostafrika und in den, deutschen Bürgern gehörigen Safes des Credit Lyonnais gelten soll. Wollte man dieses «neue Recht» einmal bis zu Ende denken, und es sich nicht bloss zum Zweck der Beschönigung einer rechtswidrigen Handlung zurechtlegen, dann würde der ganze Widersinn haarsträubend uns vor Augen stehen. Recht kann niemals die Beschönigung der Gewalt sein, es ist die Überwindung der Gewalt.