Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

30. November 1914.

Auf ein Schreiben, das ich am 20. November an den Reichstagsabgeordneten G. sandte, erhielt ich nun heute die Antwort. ln vieler Beziehung Zustimmung. Aber G. ist der Ansicht, dass der Krieg von England und Russland gewollt war. Allerdings glaubt er, auch von Österreich. Er schreibt:

«Dass Russland den Krieg jedenfalls wollte, geht nicht nur aus dem Artikel des Professor Pisanoff in den «Preussischen Jahrbüchern» hervor, sondern noch mehr aus den Truppenverschiebungen während und nach dem Balkankrieg. Mir, dem die Rüstungsverständigung nicht bloss Verstandes- sondern auch Herzenssache ist, der ich seit so langen Jahren dafür eingetreten bin, ist es unsagbar schwer geworden, der grossen Heeresverstärkung zuzustimmen. Aber — hätten Sie, so wie ich, in den Besprechungen einer kleinen Anzahl von Abgeordneten hinter verschlossenen Türen mit Kriegsministerium und Vertretern des Generalstabs diese Darlegungen über die Verschiebungen und Verstärkungen der Russen an der Westgrenze gehört, so hätten Sie auch nicht die Verantwortung auf sich nehmen können, die Vorlage abzulehnen. Um so weniger, als uns gleichzeitig dargelegt wurde, wie unter dem Einfluss der in Aussicht genommenen Offensive der Russen nun mehr auch die französische Heeresverwaltung sich auf einen Offensivkrieg einrichtete. Und dass uns damals die volle Wahrheit gesagt wurde, das hat der Krieg bewiesen. Die russischen Vorbereitungen im Westen waren sogar erheblich weiter gediehen, als unsere militärischen Kreise annahmen. Bei unserer ungemein ungünstigen Grenze gegen Russland, bei den wenigen weit zurückliegenden Festungen mussten wir aber die Überlegenheit unserer rascheren Mobilmachung in einem Feldzug ausnützen. Die Mobilmachung Russlands bedeutet daher für Deutschland die Kriegserklärung. Wir können uns dann nicht Wochen und Monate lang durch Scheinverhandlungen hinziehen lassen, ohne unsere Situation aufs Gefährlichste zu verschlimmern. Und noch dazu gegenüber der hinterhältigen und verlogenen Diplomatie Russlands.»

Dies erläutert in vielem die im Auslande nicht verstandene Haltung Deutschlands gegenüber der angeordneten russischen Mobilisierung. Wenn man dort von der Absicht einer franco-russischen Offensive gegen Deutschland überzeugt war, so bedeuteten die russischen Truppenverschiebungen und vollends die russische Mobilisierung für die in deutschen Regierungskreisen vorherrschende Auffassung den Krieg.

Aber nur deshalb hatten jene Massnahmen diese Bedeutung, weil man den Krieg als etwas selbstverständlich Kommendes ins Auge fasste. Und man fasste ihn ins Auge, weil das militaristische System, dem alle Staaten unterworfen waren, dauernd die Kriegsdrohung erzeugte. Die Rüstungen bis aufs äusserste haben in Frankreich und Russland die Furcht vor einer deutschen Offensive erweckt (die durch das Treiben unsrer Kriegshetzer, Kriegspropheten und unsrer alldeutschen Presse die nachdrücklichste Unterstützung fand) und zu Gegenmassnahmen herausgefordert, in denen wieder Deutschland, mit Recht, eine Bedrohung erblickte. Es ist das Wesen des militaristischen Friedens, das er gegenseitig bedroht, dadurch die Massnahmen der Sicherung, die er zu schaffen wähnt, wieder aufhebt, bis das ganze System den Zusammenbruch in der Form des Krieges herbeiführte. Der Hauptschuldige ist demnach in erster Linie das System des militärischen Friedens, das internationale System der Anarchie.

Aber da trotz dieses seit vier Jahrzehnten verfolgten Systems in dieser langen Periode der Krieg in Europa doch vermieden werden konnte, erhebt sich die Frage, ob der Konflikt vom Sommer 1914 sich von den vorher entstandenen Konflikten wirklich so unterschied, dass gerade hier eine friedliche Überwindung unmöglich gewesen wäre. Und diese Frage muss unbedingt verneint werden. Deutschlands Haltung kann dabei nur dann verstanden werden, wenn man sich in den Gedankengang hineinversetzt, dass der Krieg früher oder später für unvermeidlich angesehen wurde, und dass man entschlossen war, lieber den Zeitpunkt zu wählen als sich ihn von den andern bestimmen zu lassen. Es war, wie ich dies in meinem «Revolutionären Pazifismus» ausgeführt habe, für die deutschen Staatsmänner der Augenblick gekommen, wo man in der selbst herbeigeführten Explosion die Erlösung aus dem Dilemma erblickte.

In einer Situation, die den deutschen Staatsmännern derart bedrohlich erschien, dass sie damit ihre Milliardenvorlage rechtfertigten, war es ein gefährliches Unternehmen, Österreich-Ungarns Ultimatum in so schroffer Form abgehen zu lassen, und als es abgegangen war, nicht darauf hinzuwirken, dass die bis auf Kleinigkeiten zustimmende Antwort Serbiens angenommen wurde. Man wusste, dass hinter Serbien Russland stand und neben Russland Frankreich, und man konnte voraussehen, dass England, wenn es sich nicht direkt an dem Krieg beteiligt, doch nicht auf Seiten des Dreibunds stehen werde, wie man wissen musste, dass Italiens Mitwirkung nicht ganz sicher war. Es ist nicht wahr, dass Englands Haltung von allem Anfang an «perfid» gewesen war. Man mag über die schliessliche Beteiligung Englands an dem Krieg denken wie man will, soviel steht unweigerlich fest, dass die englische Regierung ernstliche Bemühungen machte, den Krieg auch diesmal zu vermeiden. Gewiss ist der deutsche Einwand berechtigt, dass «Verhandlungen» eventuell die Sache nur verschleppt hätten, und durch geheime Massnahmen Russlands sich die Situation Deutschlands hätte verschlimmern können. Können! Dem gegenüber aber stand die Chance, dass der Krieg wahrscheinlich, ja fast sicher, vermieden worden wäre, und in dem weniger wahrscheinlichem ungünstigen Fall, die Situation für Deutschland doch nicht schlimmer gewesen wäre als sie war, nachdem man jede Vermittlung abgelehnt hatte. Viel Schlimmeres als ein Krieg gegen acht Gegner konnte sich doch nicht ereignen.

«Wochen- und monatelang» würden ja die Verhandlungen nicht gebraucht haben; sie hätten bei einigermassen gutem Willen in 5 Tagen erledigt sein können. Das würde die militärische Situation Deutschlands sicher nicht so sehr verschlimmert haben. Die russische Mobilisierung hätte schliesslich auch durch die deutsche Mobilisierung paralysiert werden können, ohne dass dies unweigerlich zum Krieg führen musste. Russland und Österreich-Ungarn standen sich 1912/13 an ihren Grenzen monatelang mobilisiert gegenüber, und der Krieg kam dennoch nicht zum Ausbruch.

Das Unglück war, dass sich die deutsche Regierung in den Glauben verrannt hat, man habe es unweigerlich auf einen Überfall abgesehen, und dass sie in diesem Glauben auf das kategorischste auftrat, die Fristen verkürzte statt sie zu verlängern und so den Zusammenbruch, statt ihn nach Möglichkeit aufzuhalten, beschleunigte. Die Alternative war von so unendlicher Tragweite, dass auch eine etwas ruhigere und abwartende Haltung wohl eine Messe wert gewesen wäre.

Das bezieht sich auf die Haltung Deutschlands während der Krise. Man muss der Diplomatie des Reichs aber auch den Vorwurf machen, dass sie es überhaupt zu einer Situation kommen liess, in der eine franco-russische Offensive zu befürchten war, dass ein Weltkrieg entbrennen musste, weil man in dem Versäumnis von wenigen Stunden einen uneinbringlichen Nachteil für sein Land zu erkennen glaubte. Eine solche Situation zu schaffen, ist wahrlich kein Heldenstück, kein Ehrentitel für unsere Diplomatie. Sie ist nur möglich gewesen, weil man in den deutschen Regierungskreisen lediglich mit den Machtmitteln rechnete und alle moralischen Eroberungen stets kurzer Hand abgelehnt hat. Es ist nicht wahr, dass Frankreich nach Revanche lechzte. Die Februarwahlen haben das Gegenteil bewiesen. Ein wenig Entgegenkommen Deutschands hätte den Kriegsgedanken in Frankreich, den das Volk in seiner übergrossen Mehrheit nicht teilte, sicherlich völlig zum Erlöschen gebracht. Man hätte in Elsass-Lothringen nur einige Konzessionen zu machen brauchen (die Autonomie), man hätte die Verständigungsbewegung nur ein wenig offiziell unterstützen, den Willen dazu bekunden müssen, hätte von den Kriegshetzern in der deutschen Presse nur etwas sichtbar abzurücken brauchen, und die russische Gefahr wäre mit der französischen verschwunden. Dies um so leichter als bei der traditionellen Freundschaft zwischen den Höfen von Berlin und St. Petersburg eine Verständigung nicht zu den unüberwindlichen Schwierigkeiten gehört hätte. Ich will es dahingestellt lassen, ob England wirklich eine Vernichtung oder Schwächung Deutschlands beabsichtigt hat. Wenn man dies aber befürchtete, wäre eine aktive Politik der Verständigung mit Frankreich erst recht am Platz gewesen. Das war sicherlich kein diplomatisches Kunststück, sich die ganze Welt zum Feind zu machen, und die angebliche Einkreisungspolitik Eduard VII. war weniger ein Ergebnis des diplomatischen Geschicks dieses Herrschers als das Ergebnis des diplomatischen Ungeschicks der deutschen Staatsmänner. Aber auch mit England wäre es gar bald zu einer vollen Verständigung gekommen. Wenn heute die über den Krieg Entrüsteten uns weis machen wollen, dass die ganze anglo-deutsche Verständigungsaktion nur eine besondere Art der englischen Heuchelei war, mit dem Zweck, uns einzulullen, so übersehen jene nur, dass sie damit dem deutschen Volke kein sehr schmeichelhaftes Zeugnis ausstellen, wenn sie ihm zumuten, dass es sich so blind hätte übertölpeln lassen und sie übersehen auch, dass bereits die Regierungskreise diese Verständigungsaktion mitgemacht haben und von dem Ergebnis sehr befriedigt waren. Sie waren sogar so sehr von der erreichten Wirkung dieser Verständigungsarbeit überzeugt, dass sie überrascht sein konnten, England sich auf die Seite der Gegner stellen zu sehen. Nur das Vertrauen, dass wir mit England bereits zu einem guten Verhältnis gekommen sind, konnte die Meinung erwecken, dieses Land werde sich von seinem Bundesverhältnis loslösen und neutral bleiben. Die anglo-deutsche Verständigungsarbeit war eben in bestem Gang; sie war noch nicht vollendet, und konnte, um zur Vollendung zu gelangen, nicht losgelöst werden von der Verständigung Deutschlands mit Frankreich.

Das war der Weg, den wir zeigten. Hätte man in Berlin nicht ausschliesslich den Glauben an das scharf geschliffene Schwert und an das trocken gehaltene Pulver für den allein seligmachenden angesehen, hätte man die Forderung der Zeit verstanden, neben den Rüstungen die moralischen Eroberungen nicht verschmäht, so sähe die Welt heute anders aus und hätte nicht das Leben einer Generation, nicht die Trümmer blühender Kultur zu beweinen.

* * *

Die Veröffentlichungen der «Norddeutschen Allgemeinen Zeitung» über die in Brüssel aufgefundenen Besprechungen wegen englischer Hilfe für Belgien werden in Deutschland als eine grosse Erleichterung empfunden. Die Wiener Staatsrechtslehrer Bernatzik und Loeffler erklärten im «Neuen Wiener Tagblatt», dass Belgien damit aufgehört habe, neutral zu sein. Es hätte müssen von den Anregungen Englands den andern Staaten Mitteilung machen oder auch mit den andern bezüglich eines Schutzes für den Fall eines anglo-französischen Überfalls verhandeln.

Demgegenüber möchte ich bemerken:

1. Die Besprechungen zweier Militärs sind keine Staatshandlungen. Die Kombinationen von Generalstäblern und Militärattachés binden noch nicht das Land.

2. Es konnte den belgischen Militärs ebensowenig verwehrt werden, Vorsorge für einen eventuellen Schutz der Neutralität durch Besprechungen über eine im Bedarfsfall zu gewährende Hilfe zu treffen, wie ihnen nicht verwehrt worden ist, ein Festungsnetz auszubauen und andere militärische Massnahmen zum Schutz ihres Landes zu treffen. Die Maaslinie, die sich gegen Deutschland richtet, wäre dann auch ein Bruch der Neutralität.

3. Die enthüllten Verabredungen beziehen sich nicht auf einen Angriff, nicht auf die Teilnahme Belgiens an einem Krieg, den die Tripelentente unternimmt, sondern auf die Abwehr.

4. Nicht offiziell, aber durch die Schriften zahlreicher Militärs, namentlich aber durch die alldeutsche Literatur, ist der Durchmarsch durch Belgien seitens Deutschlands im Falle eines Krieges mit Belgien wiederholt erörtert worden. Belgische Militärs handelten bei jenen Besprechungen nur unter einer von deutscher Seite hervorgegangenen Bedrohung.

5. Hat Deutschland von diesen Massnahmen gewusst, dann hätte es, wenn es geglaubt hätte, sie als Neutralitätsverletzung auffassen zu müssen, offen von dem Londoner Garantievertrag zurücktreten sollen. Hat es nicht davon gewusst, dann ist, selbst wenn jene Verabredungen wirkliche Staatsakte wären, und demnach wirkliche Aufgabe der Neutralität bedeuteten, sein Vorgehen gegen Belgien dennoch, so wie es der Reichskanzler in der Reichstagssitzung am 4. August dargelegt hat, ein Bruch des Völkerrechts gewesen.

Das französische Gelbbuch ist erschienen. Einige Fragmente in den Blättern gelesen. Auch hier wird die volle Unschuld am Kriege beteuert.

Es muss doch eigentlich auffallen, dieses Festhalten Aller an dem Standpunkt, dass er an dem Krieg unschuldig sei und von dem andern böswillig überfallen wurde.

Man setzt sich über diesen eigentümlichen Zwiespalt leicht mit der Behauptung hinweg, dass die andern eben lügen, Heuchler sind. Aber so einfach liegt die Sache doch nicht. Etwas Heuchelei mag ja bei all diesen Rechtfertigungen dabei sein, aber überwiegend ist ja doch die Gutgläubigkeit nicht abzustreiten.

Man muss daher zu dem Ergebnis kommen, dass dieser haarsträubende Widerspruch in den Auffassungen über Schuld und Ursache in einem System seinen Ursprung hat, das an Widersinn jenen Symptomen nicht nachsteht. Es ist wirklich etwas Unhaltbares, dieses System, das alle Staaten gegen ihren Willen zu einer Handlung treibt, die von so entsetzlichen Folgen begleitet ist. Und dieser Widerspruch in den Anschauungen, diese feste Überzeugung der Unschuld von allen Seiten, dieser ehrliche Hass gegen die Urheber, dies alles bietet nur den bündigen Beweis dafür, dass sich die Völker auf einer falschen Bahn, in einem fehlerhaften Zirkel bewegten und in neue, geordnete Beziehungen zu einander treten müssen, damit sie nie mehr in die traurige Situation eines Zwanges zu einem von keinem von ihnen gewollten Massenmord gelangen.

Die Völker beschuldigen sich nicht nur, gegenseitig von einander überfallen worden zu sein, sie ergeben sich auch noch einem andern Widerspruch, indem in jedem Land, wenigstens in den Zeitungen, behauptet wird, dass man nicht früher Frieden schliessen wolle, bis nicht der letzte Mann und das letzte Goldstück geopfert ist. Man kennt das Bild der beiden wutentbrannten Löwen aus den «Fliegenden Blättern», die sich gegenseitig verzehren, so dass schliesslich von beiden nur mehr die Schwanzenden übrig bleiben. So wird es auch mit dem von allen Seiten angedrohten «letzten Mann» aussehen.

Man muss sich überhaupt in die durch den Krieg bedingte Psyche und in seine Terminologie hinein gewöhnen. Dann wird man vieles nicht so tragisch nehmen. Weder den entsetzlichen Hass, noch manche Redensarten und Tiraden. Das ist eben Kriegsstil, noch mehr: Rüstzeug.

Gewisse Naturvölker haben für ihre Kriegsgänge besondere fürchterliche Grimassen aufweisende Larven. Auch das ist Rüstzeug. Der Feind soll erschrecken. Wir Kulturvölker ersetzen diese Masken durch Leitartikel und Vorträge.

Man muss nur immer daran denken, dass diese Masken abnehmbar sind.

Dieser Einrichtung muss man es auch zugute schreiben, wenn jetzt alle Zeitungen und Redner in allen Ländern mit den Tönen höchster Entrüstung die auftauchenden Friedensgerüchte zurückweisen, wenn sie alle behaupten «kein Mensch denkt bei uns an Frieden». Hinter dieser Grimasse sieht’s anders aus. Gar viele, die meisten, denken an den Frieden, wenn sie auch die Kriegsmaske nicht früher ablegen wollen als die andern.