Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 31. Dezember.

Vor einem Jahr standen wir vor Brest-Litowsk. Heute stehen wir vor Versailles. Soll es dasselbe werden? Soll der Schwindel der deutschen Militärs, die damals von einem Frieden ohne Gebietsabtretungen und Entschädigungen sprachen und dann ihre «Machtstellung» betonten und den schändlichsten Eroberungsfrieden erzwangen, nunmehr von den Ententesiegern nachgemacht werden? Schon sprach Pichon dieser Tage in der französischen Kammer von der Angliederung des Saargebiets als einer Wiedergutmachung des 1815 gegen Frankreich begangenen Unrechts. Wird man am Ende die Integrität von Troja wieder hersteilen wollen? Der Ausfall der englischen Wahlen hat die Machtpolitik Lloyd Georges neu gestärkt. Alle Pazifisten und Verständigungspolitiker sind unterlegen. Es sind Wahlen wie die Hottentotenwahlen in Deutschland von 1912. Der neue Staat der Tschecho-Slowaken unterscheidet sich in seinen Anfängen in nichts von dem wilhelminischen Deutschland. In den Gebieten der Deutsch-Österreicher und Magyaren wird weiter besetzt und tschechisiert. In dem ultradeutschen Reichenberg, wo die städtische Schutzmannschaft Pickelhauben nach preußischem Muster trug, wird die tschechische Amtssprache eingeführt. Die Italiener wollen den Besitz der deutschen Gebiete in Tirol festhalten und geraten mit den Südslawen an der Adria fortwährend in Konflikt. Der Friede, dessen Abschluss bevorsteht, und der ursprünglich unter dem Zeichen des Wilsonprogramms stand, droht eine neue Bekräftigung des Machtprinzips zu werden. Es besteht also die Gefahr, dadass es wiederum kein Frieden sein wird, nur eine Periode der Waffenruhe, durchsetzt mit Konfliktkeimen, die unter dem zu erwartenden Gewaltregime sich bald üppig entfalten werden. Ist es möglich, dass uns nach diesem schrecklichen Anschauungsunterricht solches droht, der Wahnsinn, den wir überwunden wähnten, überlebt? Klar ist, dass, wenn es so kommen soll, die Bestrebungen jener, die radikal die gegenwärtigen Verhältnisse überwinden wollen, die da wähnen, das nur aus der völligen Vernichtung dieser Gesellschaft neues Leben blühen könne, an Stärke gewinnen. Die deutschen Militaristen waren in ihrer Verblendung die Pioniere und die Schussgarde des Bolschewismus. Sollen die Militärs und die militärisch denkenden Politiker der Entente blind in die Fußstapfen ihrer preußischen Vorgänger treten? — Der Sieg des Gewaltprinzips in Versailles würde den Sieg der Weltrevolution in ihrer radikalsten Form bedeuten. Ja, er würde sogar keine andere Hoffnung offen lassen, dass der unerträglich werdende Druck des sich nach diesem Krieg noch aufrecht zu erhaltenden Militarismus beseitigt wird. Die Menschen, die für die Gestaltung des kommenden Friedensschlusses die Entscheidung besitzen, laden eine große Verantwortung auf sich. Von ihnen hängt es ab, ob die Institution Krieg durch Vernunftbeschluss beseitigt wird, oder ob seine Beseitigung durch ein jahrzehntelanges furchtbares Blutbad im Bürgerkrieg errungen wird.

Hoffnungsloser und bedrückter als je in diesen unseligen viereinhalb Jahren des Weltkriegs stehen wir an dieser Jahreswende. Früher leuchtete uns doch noch die Möglichkeit eines für die Menschheit günstigen Abschlusses der schweren Krise, heute ist dieser Lichtschein nur mehr winzig, kaum noch wahrnehmbar. Der Krieg ist nur in der Theorie beendigt, er wütet in noch schrecklicherer Gestalt als bisher weiter. Täuschen wir uns nicht; das Fürchterlichste kann noch kommen.