Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Lugano, 25. April.

Das internationale Komitee des Roten Kreuzes in Genf hat wegen der Torpedierung englischer Hospitalschiffe eine Note an die deutsche Regierung gerichtet. Die private Gesellschaft begründet die Berechtigung zu ihrer Ermahnung in folgender Weise:

«Das internationale Komitee, welches das Recht und die Pflicht hat, den Prinzipien des Roten Kreuzes und der Genfer Konvention Achtung zu verschaffen, sowie die Verletzungen, die eintreten könnten, zu verzeichnen, richtet die äußerst ernste Aufmerksamkeit der kaiserlichen Regierung auf die Verantwortlichkeit, die sie gegenüber der zivilisierten Welt übernimmt, wenn sie auf die Durchführung einer Massnahme beharrt, die im Widerspruch zu allen humanitären Übereinkommen steht, die zu respektieren sie selbst feierlich versprochen hat.»

Die verfehlte Grundlage aller Kriegshumanisierung tritt hier deutlich zutage. Der Widerspruch kriegerischer Handlungen zu humanitären Vereinbarungen ist nicht aus der Welt zu schaffen, da diese Vereinbarungen selbst den schreiendsten Widerspruch zur Idee des Kriegs bilden. Wer die Verantwortung übernimmt, einen Krieg zu führen, wird sich um die Meinung der zivilisierten Welt wenig kümmern, wenn er es für richtig hält, ein humanitäres Übereinkommen nicht zu respektieren, selbst wenn er es noch so feierlich versprochen hat. Das ist ein Kokettieren mit der Kultur, aber kein wirkliches Kulturwirken!

In München fand eine Gerichtsverhandlung gegen eine Lehrerin der Mathematik, Frl. Zehetmaier statt, die, wie die «Münchner Augsburger Zeitung» (16. April) es nennt, wegen «pazifistischer Treibereien» angeklagt wurde. Wenn die Pazifisten im Ausland, in Amerika, in Russland sich regen, wird das von der deutschen Presse als Heldentum und Wohltat gerühmt, im eignen Land wird das aber als «Treiberei» bezeichnet . Worin bestanden nun die «Treibereien» der tapfern Lehrerin? Sie hat — immer nach dem Bericht der «Münchner Augsburger Zeitung» — trotzdem ihr vom bayrischen Kriegsministerium jede öffentliche oder nicht öffentliche pazifistische Werbetätigkeit untersagt und die Korrespondenz mit dem Ausland verboten wurde, im Januar 1917 an mich einen Brief gerichtet, worin sie die Erlaubnis erbat, mein «Handbuch der Friedensbewegung» für eine Broschüre verwenden zu dürfen. Dieser Brief wurde beschlagnahmt. Sie hat ferner an den Haager Anti-Oorlog-Raad im Sinn einer Verständigungsarbeit der deutschen Frauen geschrieben, hat deutschen Zeitungen Aufsätze angeboten, die nicht zum Abdruck angenommen wurden und hat Friedenspetitionen an den Reichskanzler zur Unterschrift aufgelegt. Das waren «Vergehen gegen das Kriegszustandsgesetz» Die Angeklagte bestritt die Berechtigung des Kriegsministeriums zum Erlass des ihr zugegangenen Verbots und suchte die Berechtigung ihrer Agitation darzutun. Sie wurde auch freigesprochen. — Aber nur, weil ein als Sachverständiger vernommener Bezirksarzt behauptete, dass Fräulein Zehetmaier «infolge geistiger Überarbeitung zu Wahnideen» gekommen seil

Also: der Versuch, durch Aufklärung und Verständigung zu einer Überwindung der Menschenschlächterei und Glückvernichtung zu gelangen, gilt vor einem deutschen Gericht als Wahnidee! Als logisch gilt demnach die blutige Hetzarbeit der Annexionisten, der Welteroberer, der Kriegspreiser in den Redaktionen, auf der Kanzel und auf dem Katheder. Wir sind also allesamt Narren! Das besagt jenes Urteil. Herr Reventlow, Herr Pastor Traub, General Bernhardi, das sind die geistig Gesunden, die allein Recht haben.

Und dies geschieht nach jenem Bekenntnis des Reichskanzlers zum Pazifismus vom 9. November vorigen Jahres! Das geschieht zu einer Zeit, wo es dem deutschen Volk immer klarer wird, dass dieser, Krieg genannte, Höllenzustand nur deshalb durchlebt wird, weil man in Deutschland etwas als Wahnidee bezeichnete, was die gesamte übrige Welt als Grundlage der Weltkultur erkannt hat.

Frl. Zehetmaier möge sich trösten. Ihre «Wahnidee» beherrscht heute die Welt, und sie bildet die conditio sine qua non der Kriegsbeendigung. Wegen Verkennung ihrer Ideen durch die Machthaber im Reich bluten jetzt Deutschlands Söhne an der Aisne. Der Wahn, der den Pazifismus als Wahn hinstellt, trägt die Blutschuld dieses Kriegs!

Anfangs November las ich in den preußischen Jahrbüchern einen Aufsatz Professor Delbrücks über den Pazifismus, der zu dem Schluss kommt, der Pazifismus sei zwar absurd, aber — credo, quia absurdum. Zur Orientierung über den durch den Verfasser sichtlich missverstandenen Pazifismus sandte ich diesem meine, erstmalig vor neun Jahren, erschienene Schrift «Die Grundlagen des ursächlichen Pazifismus» zur Kenntnisnahme. Die eingeschriebene Kreuzbandsendung wurde beschlagnahmt. Darauf reklamierte ich. Am 5. April, also fünf Monate nach der Absendung, wurde das Berner Aufgabepostamt vom Reichspostamt in Berlin unter Zahl: I. C. 623 benachrichtigt,

«dass die beschlagnahmte Einschreibesendung ... an Herrn Professor Delbrück in Berlin-Grunewald mit der Druckschrift ,Die Grundlagen des ursächlichen Pazifismus’ von der Militärbehörde mit Rücksicht auf die Persönlichkeit des Empfängers ausnahmsweise - also auch nur in diesem Fall - zur Aushändigung freigegeben und hierauf am 2. April dem Empfänger zugestellt worden ist.»

Ich freue mich dieses Entgegenkommens der Militärbehörde, und ich hoffe, dass Professor Delbrück, der bei ihr so hohes Ansehen geniesst, dass ihm gegenüber bei einer vermeintlichen Giftsendung eine Ausnahme gemacht wird, die Broschüre lesen und an die Zensurstelle des preußischen Kriegsministeriums eine Mitteilung gelangen lassen wird, worin er über den Irrtum aufklärt, der zum Verbot führte. Er wird mit Recht behaupten können, dass man ebenso ein Lehrbuch der Geometrie verbieten könnte, wenn man diese rein theoretische, wissenschaftlich anerkannte Arbeit (sie hat mir 1913 den Ehrendoktor der Universität Leyden eingetragen), die lange vor dem Krieg erschienen ist, in Deutschland in Bann tut. — Den Gedanken, den mir kürzlich ein Bösewicht suggerierte, dass auch ein Lehrbuch der Geometrie verboten werden würde, wenn ich es herausgeben sollte, weise ich, natürlich mit Entrüstung, zurück.