Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 13. Oktober.

Der nationalliberale Abg. Stresemann indossiert die Lüge des Wolff-Bureaus (Meine Eintragung vom 8. Oktober) über die Schiedsgerichtsfreudigkeit Deutschlands, namentlich auf den Haager Konferenzen (!!) und Amerikas — ausgerechnet Amerikas — Feindschaft gegenüber aller Schiedsgerichtsbarkeit. Diese Leute scheuen sich nicht, Dinge, von denen sie keine Ahnung haben, mit dem Brustton der Überzeugung zu behaupten, ohne nur den Versuch gemacht zu haben, sich an den Quellen zu informieren, ohne nur zu ahnen, wie haarsträubend sie sich mit der Wahrheit in Widerspruch setzen. Herr Stresemann sagte nach dem Parlaments bericht im Berliner Tageblatt (Abendausg. vom 10. Oktober):

«Der deutsche Standpunkt wurde auf der Haager Konferenz vollkommen von der Schweiz und Belgien geteilt.»

Das soll nun das deutsche Volk glauben machen, dass Deutschland also im Recht war und der Gegensatz, in dem es sich zu anderen Staaten gesetzt habe, völlig nebensächlich gewesen sei, denn Belgien und die Schweiz haben ja Deutschlands Standpunkt geteilt. Dass die Vereinigten Staaten, sämtliche 20 lateinisch-amerikanische Republiken, dass Großbritannien, Frankreich, Russland, Spanien, die skandinavischen Staaten, Holland, Serbien offen, Italien, Japan, stillschweigend diesen Standpunkt nicht teilten, insgesamt 35 Staaten ihn nicht teilten, Österreich-Ungarn es nur gezwungen tat, und außer der Doppelmonarchie, Belgiens und der Schweiz sonst nur der Balkan sich auf Deutschlands Seite befand, weiß Herr Stresemann nicht, oder er weib es und verschweigt es.

Die konservativen Abgeordneten Westarp und Warmuth sind sich treu geblieben. Der erste verneinte rundweg die Möglichkeit einer internationalen Abrüstung und stützt sich dabei auf «eine jahrhundertealte Erfahrung». Er höhnte über den Weltfriedensbund und Schiedsgerichte. Der zweite proklamiert sogar «ein moralisches Recht auf Eroberungen und Entschädigungen». Es gibt eben — leider — verschiedene Auffassungen von Moral und Recht.

Die Berliner Pastoren erlassen ein Aufruf für einen Verständigungsfrieden.

Darin heißt es:

«Wir sehen den Hinderungsgrund einer ehrlichen Völkerannäherung vor allem in der unheilvollen Herrschaft der Lüge und Phrase, durch die die Wahrheit verschwiegen oder entstellt und Wahn verbreitet wird, und rufen alle, die den Frieden wünschen, in allen Ländern zum entschlossenen Kampf gegen dieses Hindernis auf.»

Ist damit nur die Lüge und Phrase gemeint, die in erster Linie und in widerlicher Weise gerade von deutschen Pastoren über den Krieg verbreitet wurde? Das hätte deutlich und unumwunden zum Ausdruck gebracht werden müssen, damit man dem Schlusssatz Glauben beimessen dürfte, der da lautet:

«Wir fühlen angesichts dieses fürchterlichen Kriegs die Gewissenspflicht, im Namen des Christentums fortan mit aller Entschiedenheit dahin zu streben, dass der Krieg als Mittel der Auseinandersetzung unter den Völkern verschwindet. »

Schön! Sehr schön! Aber wir glauben euch nicht. Ihr habt die Jahre des Bluts hindurch geschwiegen, die Schlachten gesegnet und den Mord. Ihr habt als Berufsgemeinschaft (der Einzelne mag jeder Schuld frei sein) allen Kredit für die Zukunft verwirkt. Wir lehnen eure Hilfe ab.