Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 28. Juli.

Der zweite Jahrestag des Kriegs!

Heute vor einem Jahr schloss ich meine Betrachtungen mit der Frage: «Wie lange noch?» Und heute nach zweijähriger Dauer dieses unausdenkbar fürchterlichen Ereignisses ist jene Frage nur noch ängstlicher zu wiederholen. So sehr man sich auch mit dem Bewusstsein trösten muss, dass der Krieg einmal ein Ende finden müsse, um so trostloser gestaltet sich heute die Frage nach dem «Wann?» Die Hoffnung auf die Vernunft ist auf ein Mindestmass hinabgesunken, und immer deutlicher gestaltet sich der grauenvolle Ausblick, dass dieser Krieg nicht beendigt werden wird durch Menschenwillen, sondern durch ein langsames Ausbrennen unter allmählicher aber völliger Vernichtung Europas.

Die Völker Europas befinden sich heute in einem Zustand, den die Menschheit in ihrer vieltausendjährigen Geschichte noch niemals erlebt hat. Sie schweben zwischen zwei Zeitaltern, im Ungewissen und ohne Boden. Die Vergangenheit ist endgültig dahin. Lebensweise, Schicksal, Ziele, alles, was uns bis zum 28. Juli 1914 erfüllt hatte, ist für uns verloren, und die Zukunft ist etwas Undefinierbares, Unbewusstes, Rätselhaftes geworden. Das einzig Wirkliche ist noch die Fiktion. Wie die Banknote in unserer Brieftasche nur dank dieser Fiktion einen Wert erhält, und keiner weiss, wie sich ihr Wirklichkeitswert gestaltet, so wenig wissen wir, welchen Wirklichkeitswert in Zukunft Menschen und Einrichtungen, Staat und Gesellschaft, Parteien und Gruppen, Ideale und Hoffnungen haben werden. Es ist der Schein, die Einbildung, die das Leben aufrechterhalten, es uns vorgaukeln und dadurch den Glauben daran in uns wachhalten. Aber wir müssen uns sagen, dass dieser Schein zerstieben, dieses eingebildete Leben zerfallen muss, dass es ein Leichnam einer Welt ist, den wir uns als lebend vorgaukeln. Und wenn dieser Augenblick kommen wird, wissen wir nicht, was dann geschieht. Das Erwachen zur Wirklichkeit wird entsetzlich sein. Ängstliche Gemüter, die nur an den Scheinwert der Banknote denken, fürchten bloss den Staatsbankrott, wir andern fürchten den Seelenbankrott des Daseins.

So schweben wir in der Luft zwischen dieser Vergangenheit, von der wir jäh getrennt wurden, und einer Zukunft, zu der wir keine Übergänge haben. Zeitlos sind wir inmitten dieses Interregnums des Wahnsinns.

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Die grössten Feinde der Menschheit sind jetzt diejenigen, die sich einreden, der Krieg müsse mit einem Ergebnis enden. Jene Narren, die da glauben, dass diese Sabotage, die der Form nach so aussieht, wie früher Kriege ausgesehen haben, auch so enden muss wie solche Kriege zu endigen pflegten, mit einem Sieger und einem Besiegten, und die daher auf beiden Seiten nicht aufhören wollen, den Eintritt dieses Zustandes abzuwarten, sie sind die Massenmörder der europäischen Menschheit. Gibt es nach einem Eisenbahnzusammenstoss, nach einer Kesselexplosion, einem schlagenden Wetter, einem Erdbeben, Sieger und Besiegte? Wartet man in diesen Fällen bis sich solches entscheidet? Oder sieht man klar, dass es nur Opfer geben kann, und dass man retten, helfen, lindern, dass man den Schutt aufräumen muss, um das Leben wieder zur Geltung kommen zu lassen. Etwas anderes kann man auch hier nicht retten. Sieger brauchen wir nicht; wir brauchen Helfer, Pfleger, Irrenwärter, starke Männer, die den Schutt wegräumen. Sonst nichts. Wer sich heute nach diesen zwei Jahren der fürchterlichsten Vernichtung noch mit dem Gedanken von Siegen und Vorteilen abgibt, ist ein Narr oder ein Verbrecher, gehört ins Irrenhaus oder auf den Galgen.

Zwei Jahre! Ob wohl heute die Urheber des Kriegs auf den Kirchhöfen spazieren gehen und ihre Bilanz ziehen werden? Es wird einmal ein Denkmal für sie errichtet werden müssen. Ein Denkmal ganz anderer Art als die bisher üblichen. Kein Denkmal als Ehrung, als Dankbarkeit, ein Denkmal als Fluch. Ein Fluch in Stein und Bronze, riesengross und gewaltig, inmitten eines Schindangers. Mögen die Künstler darüber nachzudenken anfangen, wie sie diese dankbare Aufgabe am besten lösen werden. Die Schädelpyramide Wereschtschagins wäre zu harmlos für diesen Zweck.