Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Beatenberg, 18. Juni.

Die Ententeantwort ist am Montag in Versailles übergeben worden. Frist auf sieben Tage anberaumt. Also am 23. abends wird die Entscheidung fallen. Noch ist aus den bisher gesehenen Zeitungen nicht ersichtlich, welche Änderungen an dem ursprünglichen Vertrag vorgenommen wurden. Es sind einige Milderungen erfolgt.

Viel ist es sicherlich nicht. Ein denkwürdiges Dokument, das in der Geschichte nicht untergehen wird, ist der von Clemenceau Unterzeichnete Begleitbrief zur Note. Eine Anklage, eine schwere Anklage gegen Deutschland, die gleichzeitig eine Begründung der Schwere und Unerschütterlichkeit der Friedensbedingungen sein soll.

Es ist viel Wahres in dieser Denkschrift.

«Nach der Ansicht der alliierten und assoziierten Mächte ist der Krieg, der im Jahre 1914 ausbrach, das größte Verbrechen gegen die Menschheit und gegen die Freiheit der Völker, das je mit Vorbedacht von einer Nation, die sich für zivilisiert hält, begangen wurde.»

Das ist, leider, wahr!

Es folgt eine Schilderung der Anstrengungen, die «die deutschen Regierungen» — hier ist erfreulicherweise von den Regierungen die Rede — machten, um sich die Vorherrschaft in Europa zu sichern. Sie haben ihre Rüstungen übertrieben, Feindschaft und Argwohn zwischen den Völkern gesät, haben den «Geist ihrer Untertanen mit allen ihnen zu Gebot stehenden Mitteln zu der Lehre bekehrt, dass in den internationalen Angelegenheiten die Gewalt das Recht sei».

Das haben sie wahrhaftig getan!

Dann folgt der Vorwurf über die Entfesselung des Kriegs und über die grausame Art seiner Führung. Doch ist hier nicht mehr von den «deutschen Regierungen» die Rede, sondern kurzweg von «Deutschland». Damit wird der Übergang gefunden zu der Begründung jener Maßnahmen, die das Volk zu tragen hat. Die Revolution wird anerkannt, sogar der Hoffnung Ausdruck ge-gegeben, dass die durch sie bewirkte Änderung Frieden und Ordnung für Europa darstelle. Aber da die Revolution erst gemacht wurde, als die Armeen im Felde geschlagen und keine Hoffnung mehr vorhanden war, aus dem Krieg Gewinn zu ziehen, sehe man keine Veranlassung, dieser Änderung im Friedensvertrag Rechnung zu tragen. Und nun begründet man die Schuld des deutschen Volkes.

«Während des ganzen Kriegs wie auch vorher haben das deutsche Volk und seine Vertreter, die dem Krieg günstig gesinnt waren, Kredite bewilligt, Kriegsanleihen gezeichnet, allen Befehlen ihrer Regierung gehorcht, so grausam sie sein mochten.»

. . . «Wenn diese Politik der deutschen Regierung erfolgreich gewesen wäre, so hätte sie das deutsche Volk mit ebensoviel Begeisterung begrüßt, wie es den Ausbruch des Kriegs begrüßt hat.»

Diese Argumentation ist falsch.

Wann sind Revolutionen gegen eine starke, noch dazu erfolgreich im Krieg befindliche Regierung gemacht worden? Erst wenn die Regierungsgewalt durch eine Niederlage unmöglich ist, werden die Kräfte des Volkes frei, kann sich ein Volk erheben. Es ist zugegeben, dass große Teile des deutschen Volkes den Krieg gebilligt, ihn in allen seinen Phasen mitgemacht, auch im Falle eines Sieges sich an dessen Vorteile beteiligt hatten. Das spricht aber noch immer nicht für die Schuld des Volkes Dieses ist gebunden und geblendet, im Krieg mehr als je. Nicht nur im alten deutschen Obrigkeitsstaat, sondern auch in den freien Demokratien des Westens und in Amerika erleben wir dieses Schauspiel der Volksohnmacht. Der Kreis der wirklich am Krieg und seinen Vorteilen Interessierten ist klein. Diese haben aber die Mittel, die Masse zu betören und zu berauschen. Die Suggestivkraft der Massenerscheinungen unterwirft sich den Einzelnen und erhöht dadurch noch, immer aus sich selbst heraus, die Massenwirkung. Kein Volk ist schuldig! Ebensowenig wie der Eisenbahnwagen die entscheidende Kraft der Bewegung, Schnelligkeit und Richtung des Zuges liefert, in den er hineingekoppelt ist. Selbst zugegeben, dass die Masse des deutschen Volkes ein williges Objekt für die von der Regierung und den Teilnehmern an der Macht ausgehende Suggestion war, wenn es schwer ist, es aufzuklären, und es hartnäckig, sei es aus Treue, Romantik oder einfach aus Dummheit an seine Regierung glaubt, ist es doch nicht schuldig. Wer es schlägt, weil es auf Anordnung und unter Zwang Krieg geführt hat, peitscht wie Xerxes das Meer.

Und hierzu kommt noch, dass neben der Masse der Kriegsgläubigen und Kriegsbejubler ein großer Teil aufgeklärter Menschen im deutschen Volk vorhanden war, der von Anfang an dem Krieg sich widersetzte, den Elan nicht mitmachte, die Art der Kriegführung verdammte und sich auch einem Siegfrieden der deutschen Militärs widersetzt hätte. Dieser von der Suggestion nicht beeinflussbare Teil des deutschen Volkes bildet die Grundlage der Revolution, den Stamm derjenigen, die Europa, die Welt zu Hoffnungen für die Zukunft berechtigten. Auch dieser Stamm gesunder Menschen wird mitbestraft, erduldet die Rache des Siegers.

Quidquid delirant reges, plectuntur Achivi.

Es ist nicht zu erwarten, dass die feindlichen Völker, die durch den Krieg so viel gelitten haben, nunmehr dem deutschen Volk, wenn es auch selbst Opfer war, alles verzeihen. Daran denkt man nicht. Aber bei der Unterscheidung zwischen Regierung und Volk soll man bleiben, und den kommenden Tag soll man zeigen, wo man bereit sein wird, das Volk, das sich von den Sünden seiner Regierung gereinigt haben wird, als gleichberechtigtes Glied ohne Vorwurf und Hass in die menschliche Gesellschaft wieder aufzunehmen, aus die es eine vernunftlose Menschenschicht herausgerissen hat.

Soweit es die Schuld am Krieg, die nähere und die entferntere, die Verbrechen der Kriegführung anführt, ist dieses Dokument das furchtbare Urteil über die vom Bismarckgeist erfüllten zwei Menschenalter deutscher Geschichte. Es ist der Schlusspunkt für die beiden wilhelminischen Perioden von 1861—1918. Die verspätete Ritterromantik des Preußentums hat ihr Ende gefunden.

Im übrigen entbehrt dieses Dokument nicht der Schwächen. Das leichte Hinweggleiten über die Waffenstillstandsbedingungen vom November 1918 schafft den Vertragsbruch nicht aus der Welt. Die Vergewaltigung der Wilsongrundsätze ist nicht wegzuleugnen, vor allem nicht die Verhöhnung des Selbstbestimmungrechts.

Dieser Friede ist Strafe, ist Rache, aber vor allem kein Friede. Wer Richter über den Unruhestörer und Gewaltanbeter sein will, müsste doch über dem Verbrecher stehen. Die Diktatoren des Versailler Friedens übernehmen nur die Rolle des verunglückten Übeltäters. Das Übel geht weiter.