Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 18. Juni.

Die Militärs haben innerhalb ihres Gedankengangs vollständig recht. Ihnen kann man keinen Vorwurf machen. Für sie war es klar, dass die russische Übermacht, wenn sie erst zur ordnungsmässigen Mobilisierung gekommen wäre, uns überschwemmt und erdrückt hätte. Für die Militärs war es daher eine ganz vernünftige Regel, sofort loszuschlagen, wenn der russische Riese sich nur rührt. Es ist dies die Vorsicht des Schwachen. Ein als ungeheuer stark verschriener Mann geht mit einem schwächlichen Jüngling durch einen Wald. Der Jüngling weiss, dass er erschlagen wird, wenn der Starke die Hand hebt. Nun hebt der Riese die Hand. Der Schwache schiesst sofort mit seinem Revolver auf ihn. Der Riese behauptet, er hätte sich nur schneuzen wollen. Der Schwache erwidert: Wenn ich hätte abwarten wollen, mich zu überzeugen, ob du den Stock gegen mich heben wirst oder ob du dich schneuzest, wäre es im ersten Fall für mich zu spät gewesen. Die Militärs hatten also ganz recht. Umso schwerer wird dadurch aber das Verfehlen der Diplomatie. Ein Zustand der Welt, in dem die Militärs so recht haben konnten, war wahnsinnig. Er hätte nicht geduldet werden dürfen. Indem wir und alle andern rüsteten, räumten wir Russland das Recht ein, das Gleiche zu tun. Dass Russland bedeutend grösser ist als unser Land, wussten wir. Wir mussten daher auch wissen, dass Russland bei voller Ausnützung seiner Kräfte stärker sein musste als wir. Wir mussten einsehen, dass jede Vermehrung unserer Rüstung, eigentlich eine Schwäche für uns bedeutet, denn wir zwangen dadurch das stärkere Russland seine Kräfte immer mehr anzuspannen, seine grössern Kräfte immer mehr anzuwenden. Wir mussten einsehen, dass demnach das Rüsten keineswegs die Sicherheit für uns besass, die man ihm zuschrieb, sondern im Gegenteil die Gefahr für uns noch erhöhte. Wir hätten einsehen müssen, dass es ein ganz falsches System war, worauf wir unsere Sicherheit aufbauten. Die Militärs wollten aber das Dilemma nicht zugeben. Sie suchten, ihm zu entrinnen, indem sie die Technik des Zuvorkommens sich zu eigen machten. Gut, sagten sie; Russland ist grösser als wir, es verfügt über mehr Kräfte. Gut, es spannt diese Kräfte um so mehr an, als wir die unsern anspannen. Es wird also in dem Maße gefährlicher für uns, als wir uns stärker machen. Da gibt es nur eines: Zuvorkommen. Und sie dachten wie jener Schwache mit dem Riesen im Walde. Losschlagen, wenn der Andere sich nur rührt. Einerlei ob sein Rühren nur bezweckt, auf die Uhr zu sehen, sich zu schneuzen, zu kratzen oder den Stock gegen uns zu erheben. Was, du Schwindler, du hast dich nur kratzen wollen? Glaubst du, wir können so lange warten, bis wir genau wissen, was du willst? Losschlagen mussten wir auf dich, sobald du dich rührst, denn das ist für uns eine Existenzbedrohung. Möglich, dass du dich nur kratzen wolltest, dass du uns mit deinem Stock nur drohen wolltest; was du auch gewollt hättest, wäre eine Quelle des Nachteils für uns gewesen, denn unsere Stärke lag im Zuvorkommen.

Das war die Logik unseres politischen Systems vor dem August 1914. Innerhalb dieser Logik hatten die Militärs Recht. Dass aber dieses politische System aufrecht bleiben konnte, war der Fehler. Man hätte erkennen müssen, wohin es führt, erkennen müssen, dass das Wettrüsten uns schwächt statt stärkt, und dass es uns das Gegenteil von Sicherheit gewährt! Es ist die Sicherheit eines Kartenhauses, wenn jeder Konflikt mit dem stärkeren Nachbarn, jede Meinungsdifferenz mit ihm uns zwingt, uns ohne Zögern mit dem ganzen Rüstungsapparat auf ihn zu stürzen, den Krieg zu führen, den dieser Rüstungsapparat angeblich zu verhindern bestimmt war.

So ist denn die Erklärung der Diplomatie, der Beginn der russischen Mobilisierung habe uns gezwungen, sofort den Krieg zu beginnen, habe es uns unmöglich gemacht, die Mittel der friedlichen Beilegung des Konflikts zu suchen, hätte es als Wahnsinn erscheinen lassen, auf die Konferenz zu gehen, habe uns genötigt, die vorgeschlagene Konferenz als eine Falle anzusehen, die man uns stellen wollte, nur die eingestandene Bankrotterklärung der Diplomatie, die Bankrotterklärung des Rüstungsystems. Das «para bellum» war es, das uns den Krieg mit Sicherheit brachte. Die Militärs hatten recht! Dass sie recht haben konnten, war das bittere Unrecht der Staatskunst, jener Staatskunst, die sich so kindisch ablehnend verhielt, als gerade von jenem gefährlichen Russland her der Vorschlag gekommen war, das Zusammenleben der Staaten auf eine andere Grundlage zu stellen als auf jene der Waffen. Der Ausbau des Haager Werkes hätte den russischen Koloss seiner Gefährlichkeit beraubt, und uns die Sicherheit gegeben, die wir durch Wettrüsten vergeblich zu erlangen suchten.

Wer trägt da die Schuld?