Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Zürich, 28. Februar.

Eine zehntägige Pause. Verursacht durch Aufenthalt in Wien, provisorische Niederlassung in Zürich. Nicht Mangel an Eindrücken und Erfahrungen hat mich von diesem Tagebuch ferngehalten. Sondern Mangel an Ruhe.

Der Abschied von Wien — diesmal wohl für lange Zeit — ist mir nicht leicht geworden. Armes Land, arme Stadt, arme Menschen! Der Krieg hat alles mit rauher, eiserner Hand erfasst. Und dieses Österreichertum taugt nicht für Rauheit. Darüber können auch die Versuche der Zeitungen, die scheusslichste aller Einrichtungen, den Krieg zu vergolden, nicht hinweghelfen. Diese Menschen mit ihrer empfindlichen Seele sind dazu geschaffen, in Glück und Harmonie zu leben, nicht in Blut, Armut, Flecktyphus und Sorge zu verkommen. Sie suchen auch diese schreckliche Zeit mit Anmut zu überwinden, aber es ist fürchterlich, hinter den lieben, traulichen Gesichtern die blutende Seele zu sehen, hinter der rhythmischen Sprache des Wiener Dialektes Tränenstockungen zu bemerken. Armes Wien! Armes Land! Der Krieg hat dieser Generation für ihre Lebenszeit das Glück geraubt. Erst unsre Enkel werden sich von ihm erholen können. Der ganze Ernst, der entsetzliche Jammer wird ja den guten Wienern erst zum Bewusstsein kommen, bis der Krieg zu Ende, die Rechnung, die er aufstellen wird, präsentiert, und jeder, trotz der Presse, in der Lage sein wird, Aufwand und Ergebnis zu vergleichen.

Die Klage aber wird die Toten nicht aufwecken, die für Österreich-Ungarn jetzt schon eine Viertelmillion betragen sollen, und die zerbrochenen Seelen nicht ganz machen. Es wird eine lange Zeit der Restauration bedürfen, um uns seelisch aus den Wirren und Verirrungen dieser Zeit herauszureissen. Eine lange Zeit bis zur Trockenlegung des geistigen Schlamms, der unsre Welt mit täglich wachsender Masse besudelt. Da fällt mir ein schönes Wort in die Seele, das Karl Kraus in seiner zweiten Kriegsnummer der «Fackel» geschrieben (Ende Februar 1915, S. 16): «... Mit tausend Fesseln binde sich der sprungbereite Geist, sei wehrlos, wenn ihm Denken, Fühlen, Atmen gesperrt wird, schweige zu den tausend Insulten, die jeder Tag dem lesenden Auge und dem hörenden Ohr ersinnt». Dieses Gewäsch, dieses Wichtigtun der untern Hunderttausend, die durch den Kriegswirbel in die Höhe getrieben wurden, von denen man glaubt, sie seien etwas, weil sie die Oberfläche verunreinigen; dies anzuhören und zu ertragen ist für denkende Menschen fürwahr die schwierigste Kriegsdienstleistung. Auch wir, die wir nicht in den Schützengräben stecken, sondern auf Vorposten für die kommende Zeit der rückkehrenden Vernunft aufgestellt sind, haben seelisch und physisch Qualen auszustehen und mit Läusen zu kämpfen, die sich an uns festsetzen.

Drei Zeitungsnotizen fallen mir ein: Der Wiener Vizebürgermeister Hierhammer sagte unter «tosendem Beifall» in einer Wiener Versammlung, er sei noch im Mai vorigen Jahres, anlässlich der Eröffnung der Lyoner Städteausstellung dem Präsidenten Poincaré begegnet, er wusste damals nicht, dass er «einem Schurken» die Hand gedrückt hat. Warum das Staatsoberhaupt eines mit uns im Krieg befindlichen Landes durchaus ein Schurke sein muss, vermag sich der vom grünen Nebel nicht befangene Verstand nicht klar zu machen. Als Dokument der Zeitpsyche muss ich diese Notiz hier festhalten.

Der Abgeordnete Kanzow beklagt sich im preussischen Abgeordnetenhaus über die barbarischen Verwüstungen, die die Russen in Ostpreussen angerichtet haben. Ich glaube, er bezeichnet dies als Kulturschande. Man traut seinen Ohren nicht. Ja, haben wir denn die eroberten Städte mit Glacéhandschuhen behandelt? Werden den Deutschen und Österreichern von den Gegnern nicht auch Verwüstungen und Barbareien zugeschrieben? Wenn ein Deutscher die Unvorsichtigkeit begeht, derartige mit dem Krieg nun einmal untrennbar verquickte Vorfälle richtig als Kulturschande und Barbarei zu bezeichnen, so muss ihm das Bewusstsein fehlen, dass seine Landsleute gleiche Handlungen begangen haben.

Ein franz. Militärberichterstatter, wenn ich mich recht erinnere der des «Temps», lobt die Hindenburgsche Taktik. Deutsche Zeitungen drücken dieses Lob wohlgefällig ab. Es ist unheimlich zu sehen, dass sich die Militärs gegenseitig «anstrudeln». Es kommt einem so vor, als ob sie nüchtern und ohne Hass den Krieg nur als ihre Kunst betrachteten. Sie wären doch die Berufensten, einander blind zu hassen. Soll der Hass nur ein Reservat der Zivilbevölkerung sein, es den Militärs jedoch vorbehalten bleiben, sich ob ihrer gegenseitigen Leistungen bewundern zu dürfen und sich Komplimente zu sagen? Wird dieser Krieg etwa um des Krieges willen geführt? —

Die Kriegspreiser treiben lustig ihr Handwerk weiter. In Schriften und Reden. Vor mir liegt ein Zeitungsausschnitt der «Münchener Neuesten Nachrichten» (20. Februar), der einen Bericht über ein im auditorium maximum der Münchener Universität gehaltenen Vortrag des Philosophieprofessors Dr. Külpke über das Thema «Die Ethik und der Krieg» enthält. Was sich doch alles breit machen darf!

Diese Unkenntnis, diese Hausmeister-Philosophie! Ich folge dem Bericht: «Der Vortragende führt zuerst die Ansichten derer an, die den Krieg schlechthin als unsittlich bezeichnen. Besonders in den Reihen der Friedensapostel wird dieser Standpunkt vertreten.» — «Als Heilmittel wird von dieser Seite ein internationales Schiedsgericht empfohlen». Daran schliessen sich einige Fragen über die Schiedsgerichtsbarkeit. Ältestes Kaliber! Armbrüste gegen unsere Maschinengewehre. Wer soll entscheiden, wer ausführen, wer sich unterwerfen? Einfache Hausmeisterlogik! Dann: «Die Idee vom ewigen Frieden (!) und die Hoffnung auf ein Fortschreiten der Menschheit ohne die Kriegsgeissel ist ein Trugbild, denn ihre Verwirklichung hätte die Vervollkommnung der Menschen zu Engelscharen (!) zur Voraussetzung!» Und so etwas darf sich breit machen, darf von Zensur und Presse begünstigt, sein Gesalbader der Öffentlichkeit vorsetzen, und wir, die wir dabei angegriffen, verleumdet werden, müssen schweigen! Niemals war die Kirche so intolerant wie die Kriegsinstitution und ihre Priester.

Dieser Mann spricht längst Widerlegtes als grosse neue Wahrheit aus, und wir müssen sehen, wie das Volk damit betrogen wird, ohne uns rühren zu dürfen.

Die Nummer 1/2 der «Friedens-Warte» ist von der Berliner Zensur wieder auf die Hälfte des vorgesehenen Umfanges reduziert worden. Es sind keine umstürzlerischen Artikel, die da zurückgewiesen wurden, sondern zumeist sachliche wissenschaftliche Arbeiten von Lammasch, Nippold, Wehberg. Oder Artikel, die in andern deutschen Zeitungen bereits anstandslos erschienen sind. Noch immer kann ich mich nicht entschliessen, das Blatt in der Schweiz erscheinen zu lassen. Es gehört nach Deutschland, und dort will ich es behaupten.

Zwei Bücher gelesen, die sich in ihrer Tendenz diametral gegenüberstehen: « Helmolt, Die geheime Vorgeschichte des Weltkrieges», «Durkheim, Qui a voulu la guerre?» Das Erstere weist an der Hand der diplomatischen Akten nach, dass Russland am Weltkrieg schuld ist, das Letztere beweist die Schuld Deutschlands.

Die Patrioten arbeiten allerorten mit untauglichen metaphysischen Mitteln. Zum Beweis des Rechts ihres Vaterlandes, setzen sie sich über die kritischen Momente mit der Berufung auf «Prestige» und «Ehre» des eigenen Landes oder mit der Behauptung der Heuchelei des andern hinweg. Einwände, von denen sie voraussetzen, dass sie, ohne bewiesen zu werden, geglaubt werden müssen. Einwände, die wegen ihrer Unsachlichkeit auch nicht widerlegt werden können.

Ich habe meine Ansichten über den Ursprung des Kriegs, die ich hier schon oft dargelegt habe, wieder etwas vertieft. Die Handlungen der Diplomaten in den dreizehn historischen Tagen, die den Krieg veranlasst haben, waren beeinflusst durch tiefer liegende Gründe. Es ist der Zustand der Anarchie zwischen den Staaten, der auf sie einwirkte, und der schliesslich zu der von uns Pazifisten immer vorausgesagten Explosion getrieben hat. In meinem «Revolutionären Pazifismus» 8) habe ich die aus der Anarchie heraus notwendige Explosion (S. 7 u. f.) klar dargelegt Ich habe darin auseinandergesetzt, dass infolge des bereits wirkenden Organisationsprozesses die mechanische Explosion der angesammelten Spannkräfte weniger zu fürchten ist als das Streben gewisser Elemente, der mechanischen Explosion durch einen freiwilligen, vorbeugenden Krieg zuvorzukommen. Kurz, die Gefahr des Präventivkriegs. Ich schrieb dort (S. 8):

«Die Gefahr liegt darin, dass die den Staat führenden Männer, die diesen Organisationsprozess nicht erkennen, die Explosion daher noch fürchten und darnach streben, ihr bewusst zuvorzukommen. Die Angst vor einem möglichen künftigen Ersticken in der Anarchie ist es zumeist, die heute die Kriege verursacht. Da in dieser Ordnungslosigkeit jede normale Lebensbetätigung eines Staates, seine normale Entwicklung, für den andern Staat die Gefahr zeitigt, an Luft und Ellenbogenraum zu verlieren, so wird dieser aus Angst für seine eigene Zukunft, aus Furcht in seiner eigenen Lebensbetätigung gehemmt zu werden, den Krieg herbeiführen, ehe es zur mechanischen Explosion kommt, in der Hoffnung, durch bewusstes Eingreifen, durch rechtzeitiges Vorgehen, für sich günstigere Kampfbedingungen zu schaffen».

Diese Darlegungen wurden 1908 geschrieben. Sie bilden einen vollkommenen Schlüssel für den Weltkrieg 1914/1915. Gleichzeitig sind sie ein Beweis für den richtigen Gedankengang des Pazifismus, der durch den Krieg nicht überrascht, nicht Lügen gestraft, sondern nur bestätigt wurde.


8

2. Auflage erschien unter dem Titel «Der ursäch¬
liche
Pazifismus». Zürich 1916.