Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 8. Oktober.

Die Lüge herrscht. Sie hat die Geister derart mit Beschlag belegt, dass sie das Urteil völlig verloren haben. Man lügt jetzt in Deutschland unbewußt und bis zur Bewusstlosigkeit. Diese moralische Erkrankung wurde hervorgerufen und gefördert durch jenen irregeleiteten Patriotismus, der sich zu der, von den Deutschen früher so sehr verachteten englischen Maxime «Right or wrong my country» entwickelte und durch den infolge der Zensur bewirkten Wegfall aller Kritik. Hierzu kommt noch der an sich stark ausgebildete Autoritätsglaube der Deutschen. So floriert die Lüge und damit eine Anschauung der Dinge, die von der Wirklichkeit so sehr entfernt ist, wodurch natürlich der richtige Blick für die großen und zahlreichen Gefahren der Gegenwart getrübt wird.

So verbreitet eben das Wolff-Bureau eine Erklärung über Deutschlands Haltung auf den Haager Konferenzen und die Stellungnahme des Reichs. Darin befindet sich die haarsträubend verlogene Behauptung:

«Gerade die lautesten Wortführer des Weltschiedsvertrags - England und Amerika - sind es, die den Schiedsgedanken in der Praxis am meisten kompromittierten.» Und daneben die nicht minder verlogene Behauptung: ganz im Gegensatz hinzu tat Deutschland soviel für die praktische Förderung des Schiedswesens wie kein anderes Land.»

Angesichts einer derartig unerhörten Verdrehung der Tatsachen, die nur den Zweck hat, das arme deutsche Volk zu benebeln, kann man nur mit tiefstem Schmerz, mit ernstester Besorgnis in die Zukuft blicken. Wo sind denn die deutschen Gelehrten, die Wissenden, die die Lüge klar erkennen, die in solcher Behauptung liegt? Warum schweigen sie, statt sich das, heute allerdings dornige, Verdienst zu erwerben, der Lüge entgegenzutreten, aus patriotischen Beweggründen entgegenzutreten?

Aber die Lüge hat bereits die Besten umnebelt.

Da fliegt mir das «Hamburger Fremdenblatt» vom 22. September ins Haus mit einem Aufsatz von Frenssen, von diesem großen, echten Dichter. Auch er von der Lüge umnebelt, blind gemacht. Der Aufsatz ist im Dienste der Kriegsanleihe-Propaganda geschrieben. Frenssen wird darin zum Agitator für die Kriegsverlängerung, zum Verbreiter der Lüge von dem «ruchlos aufgezwungenen Krieg», zum Schmäher der wahren Freunde des Volks, die den raschen Verständigungsfrieden erstreben, und somit zu einem, der mit Hand anlegt an der Vernichtung Deutschlands, zum Mitschuldigen an dem großen, unendlich großen Verbrechen.

«Es gibt Leute unter uns,» so hebt der Aufsatz an, der «Um Deutschlands Zukunft» betitelt ist, «die sagen: Oh . . ., wenn wir nur Frieden hätten . . ., einerlei, was für einen! . . . Frieden! Wenn es nicht anders geht, 'um jeden Preis'!»

Lüge!

«Wenn unser Außenhandel ruiniert ist — und um ihn zu ruinieren begann England diesen Krieg! —»

«Was haben sie mit dem deutschen Volk gemacht? Sie haben es schändlich überfallen . . .»

Lüge!

«Seht, wir sind in diesem Krieg ein einiges und gleiches Volk geworden.»

Lüge!

Und Frenssen fragt:

«Was gehört zum Sieg? Männer. Die haben wir. Eine Waffe, die wirkt. Die haben wir. (U-Boote). Ein Volk, das Disziplin hat. Die haben wir.» Und dann zum Schluss:

«Was gehört zum Sieg? Geld. Ich mag nicht viel davon reden. Mir scheint, es steht so: Was du hast: wenn wir unterliegen, gehört es nicht mehr dir! Wenn wir siegen, ist es dein mit Zins und Zinseszins noch für Kinder und Enkel. Gib, dass du habest, dass auch deine Kinder nach dir haben. Dass sie einen Platz haben auf der Erde, im alten Vaterland, in Ehren und Brot und Sonne! Gib, dass dein Volk hinaufkommt auf die Höhe, die Gott ihm bestimmt hat! Sieh: es dauert nicht mehr lange, es kommt der Sieg! Und mit ihm Friede und Freude!»

Lüge! Lüge! Elende Lüge!

Lüge, dass es sich um unterliegen oder siegen handelt. Es handelt sich, um nicht unterliegen, aber auch um nicht siegen. Lüge, dass der Sieg bald kommt, Rettung des Wohlstands, Friede — von Freude kann doch niemals die Rede sein — kann nur kommen durch einen Verzicht auf das Phantom eines Siegs.

Wahrhaftig ein trauriges Dokument, dieses Lügendokument eines großen Deutschen. Der einzige Lichtblick liegt in dem Umstand, dass ein ehrsamer deutscher Schiffer an der Elbenmündung mir dieses Zeitungsblatt als Zeichen seiner Entrüstung gesandt hat. Ein Lichtblick; das ganze deutsche Volk ist doch nicht verblendet.