Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Spiez, 14. September.

In der Wiener «Arbeiterzeitung» vom 11. September vertritt Ludo Hartmann die These: «Deutschland führt den Krieg als einen Defensivkrieg, der ihm aufgedrungen worden ist.» Die beiden Schiedsgerichtsangebote vom 25. und 29. Juli 1914 sind ihm Manöver, um Österreich oder Deutschland aufzuhalten, bis Russland bereit war. Das selbe hätte England im Oktober 1904 auch dem Zarenangebot betreffs Anwendung der Haager Konvention auf den Hüller Zwischenfall geltend machen, hätte man vor jedem Schiedsspruch Vorbringen können. Diese Behauptung des Sozialisten macht jeden Schiedsspruch unmöglich. Der Einwand, das Anerbieten habe den Zweck, die

Rüstungen zu vervollkommen, Zeit zu gewinnen, lässt niemals einen friedlichen Ausgleich zu. Hartmann sieht die Entwicklung des Wetlkriegs darin,

«dass der serbisch-russische Konflikt nicht isoliert blieb, sondern weil sich der russisch-panslavistische Imperialismus das Recht anmaßte, sich in die Angelegenheiten fremder Länder zu mischen.»

Dass ein Konflikt auf dem Balkan nicht isoliert bleiben konnte, wusste man in Europa schon seit hundert Jahren, seit einem Menschenalter auch, dass bei der Hypertrophie der Rüstungen und der Bündnisverwicklungen kein Krieg in Europa eine eigene Angelegenheit zweier Länder bleiben konnte. Dass das Vorgehen Österreichs in Serbien Russland auf den Plan locken musste, wusste man in Wien und Berlin und brachte es auch im deutschen Weißbuch zum Ausdruck, und dass die Forderung nach einer Isolierung des österr.-serbischen Konflikts, wenn sie durchzusehen gewesen wäre, als eine Niederlage Russlands anzusehen war, darüber war man sich in Wien und Berlin im Klaren. Der Krieg gegen Serbien war daher der Angriff, die russische Mobilisierung eine Gegenmaßnahme, die keineswegs schon den Krieg hätte bedeuten müssen, wenn der deutsche Generalstab dies nicht zu seinem Dogma gemacht hätte.

Die «Norddeutsche Allg. Zeitung» fährt fort, die Verhandlungen Kaiser Wilhelms und des Zaren von 1905 zu veröffentlichen. In der Unterredung von Björkö im Juni 1905 spielt der schwedisch-norwegische Konflikt eine große Rolle. Der Zar erwähnt, König Oskar hätte selbst gegen eine Republik als Nachbar nichts einzuwenden, er schlug dabei die Hände über den Kopf zusammen und rief aus: «Auch das noch, das fehlt gerade noch, ob wir nicht schon genug Republiken hätten.»Dieser Stoßseufzer erleuchtet wie ein Blitz die Weltanschauung dieser Herren, die da meinen, die Erde müsse von rechtswegen ein Territorium für einige erbliche Besitzer sein. Von diesem Gesichtspunkt aus wird dann von ihnen Weltgeschichte gemacht. Wie Stosch in seinen Memoiren sagt: Die Höfe betrachten die Weltgeschichte wie eine Art Familienangelegenheit. — So sieht der Bericht über Björkö und der Briefwechsel aus jener Zeit aus. Während Millionen Menschen rastlos arbeiteten, Werte schufen, Ideen entwickelten, die Natur überwanden, die neue Generation heranbildeten, unterhielten sich zwei Herren über Maßnahmen für ein, in der Zukunft immer als sicher bevorstehend erscheinendes Gesellschaftsspiel, das Millionen das Leben kosten muss und die Arbeit eines Jahrhunderts erträgnislos macht. Und dann kommen die offiziösen Schmierfinke und belehren uns, daß all diese Geschaftelhuberei nur dem Frieden dienen sollte.

Hände weg! Hände weg für immer von dem Leben und Schaffen der wertvollen Menschheit. Nie mehr darf so plump und geheim in den Gang der Menschheitsentwicklung hineingeschustert werden, wie dies namentlich in den letzten Jahrzehnten des jetzt sterbenden Europas der Fall war.