Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Lugano, 22. April.

Der tausendste Tag des Kriegs.— Für 1915 hatte die anglo-amerikanische Welt eine Feier ihres hundertjährigen Friedens geplant. Man hätte auch für den tausendsten Tag des Weltkriegs eine Feier veranstalten sollen. Eine internationale. Das hätte die Gewissen wecken können. Die Menschheit wird an diesen tausend Tagen zu tragen haben, wohl über ein Jahrhundert!

Der Zusammenstrom von Sozialisten neutraler und kriegführender Länder in Stockholm ist nicht ohne Bedeutung. Es kann sich aus diesem Gedankenaustausch von Männern, die grundsätzlich Gegner des Kriegs sind, wohl etwas entwickeln, was zur Beendigung des Schlachtens führen könnte. Leider sehen die führenden Personen in Deutschland die Grundlagen des Friedens noch immer nicht klar, glauben sie, durch eine Überrumpelung der russischen Revolution zu einem billigen Sieg über die Westmächte zu gelangen. Sie sehen die Welt noch immer mit degenerierten Militäraugen an, die ein Dreieck für einen Kreis, einen Kreis für ein Sechseck halten. Der Friede liegt in Deutschlands Hand, in dem ehrlichen und entschiedenen Bruch mit der Romantik patriarchalischer Herrschaft. Es ist kein Friede möglich ohne ehrliche Anerkennung der Wilson-Botschaft vom 22. Jannuar v. J., und wer sich jetzt bemüht, Wilson als Schächer und Profitjäger zu zeigen, mordet Tausende des eigenen Volks dahin. Feste Begründung der Demokratie, Abkehr von aller Eroberung,Anerkennung und Freiheit der Nationalität, das sind die Grundlagen der europäischen Wiederherstellung. Wer das heute am tausendsten Mordtag noch nicht erkennt, wer noch immer in Zerstörung und Vernichtung das Heil und das Ende erblickt, ist nicht fähig, den Frieden zu bringen.

Vielleicht wird die Sozialistenkonferenz in Stockholm das Ergebnis zeitigen, die deutschen und österreichischen Regierenden auf die richtige Fährte zu lenken. Die deutschen und österreichischen Sozialisten werden mit ihren Erfahrungen nach Hause zurückkehren und ihre Regierungen belehren, wo der Pfad zum Frieden liegt. Das kann ein wichtiges Ergebnis der Beratungen in Stockholm sein.

Die Münchner fortschrittliche Volkspartei stellt die Bedingungen für eine demokratische Verfassungsänderung im Reich auf. Der Parteiausschuss der deutschen sozialdemokratischen Partei hat in Gegenwart führender Sozialdemokraten aus Österreich und Ungarn die sofortige Beseitigung aller Ungleichheiten der Staatsbürgerrechte in Reich, Staat und Gemeinde und den entscheidenden Einfluss der Volksvertretung gefordert. Das sind die Axthiebe, die den Weg in der allein geraden Richtung frei machen sollen.

Und an der Riesen-Westfront geht das Massenmorden weiter, weiter über den tausendsten Tag hinaus!