Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 27. Juli.

Es kommen türkische Truppen nach Galizien. So wird aus Berlin gemeldet und dahin kommentiert, dass dies die «ungeschwächte militärische Schlagkraft» der Türkei beweist, «welche die Nachrichten der Entente ihr abzusprechen versuchen». Wie einfach müssen diese Köpfe denken, wenn sie glauben können, dass solche Argumentationen irgendwo verfangen. Wir danken für diese parfümierte Sauce. Sie vermag den Gestank des Bratens nicht zu vertreiben. —

Die Türkei in Galizien, das bedeutet mehr als das Verlangen, einen Irrtum der Entente zu korrigieren. Das bedeutet, dass Österreich-Ungarn nicht mehr Mannschaften genug hat, um sich des russischen Ansturms zu erwehren und Deutschland nicht mehr in der Lage ist, Mannschaften zur Deckung Ungarns abzugeben. So erscheinen denn die Türken, die man vor 2 1/4 Jahrhunderten aus Österreich und Ungarn vertrieben hat, als Helfer in Europa. —Dahin hat uns dieses Kriegsabenteuer nun gebracht.

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Der französische Fliegerleutnant Maréchal ist von Nancy bis nach Wolhynien geflogen und soll über Berlin eine Kundgebung abgeworfen haben. Technisch unmöglich ist also das Überfliegen Berlins durch feindliche Flugzeuge nicht. Fraglich ist nur, ob ein solches, wenn es sich durch Abwerfen von Bomben bemerkbar machen würde, die Möglichkeit besässe, wieder zurückzukehren.

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Zu den Tötemitteln dieses Krieges gehört in grossem Umfang das Ersticken. Ersticken durch Gase, durch Verschüttungen. Letzteres im Minenkrieg das übliche fürchterliche Mittel. So ist im heutigen deutschen Generalstabsbericht (26. 7.) zu lesen: «Auf der Höhe von La Fille Morte besetzten die Franzosen einen von ihnen gesprengten Trichter, wurden aber bald darauf durch eine deutsche Gegenmine verschüttet».

Furchtbar! Man weiss eigentlich nicht, ob es noch Tötemittel gibt, die gegenüber den angewendeten als inhuman bezeichnet werden könnten. Wenn es heute einer Partei gelänge, Löwen oder Tiger auf bestimmte Uniformen zu dressieren, so dass der eigenen Truppe keine Gefahr mehr droht, würde man es gar nicht für unmöglich halten dürfen, dass die betreffende Partei es für zulässig erachten würde, hungrig gehaltene Löwen und Tiger zu Hunderten auf die feindlichen Reihen loszulassen. Und wer weiss, ob eine solche Dressur nicht auch noch gelingt. Wenn man lebende Menschen durch Erdreich verschütten und ersticken lässt, warum soll man sie nicht durch wilde Bestien zerfleischen lassen.

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Wladimir Orilfjeld, ein Student, der an der «Friedens-Warte» mitgearbeitet hat, auch an andern pazifistischen Organen und der dem Sekretariat der Deutschen Friedensgesellschaft als Hilfskraft diente, ein junger, überzeugter Anhänger unserer Sache, hat, 19 1/2 jährig, am 10. Juli vor Verdun sein Leben gelassen. Fritz Röttcher, der es mir meldet, schreibt: «Er war der hoffnungsvollste junge Mann, den ich in unsern Reihen kannte». — Einer von der in Millionen geknickten Jugend. Welcher Fluch liegt über jenen Menschen, die im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts zur Welt kamen. Sie, die man beneidete, dass sie in der Reife ihres Lebens, in dem von uns erkämpften und vorbereiteten zwanzigsten Jahrhundert werden leben und wirken können, waren dazu bestimmt, in der Blüte ihrer Jahre ins Grab zu sinken.

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Was in Österreich jetzt alles verboten ist! Das «Neue Wiener Tagblatt» vom 20. Juli veröffentlicht folgende Liste «Verbotener Druckschriften»:

«Die Friedens-Warte », 2. Heft. (Februar 1916), Blätter für zwischenstaatliche Organisation. — Die Druckschrift «Genug zerstört! Wieder aufbauen!» von Dr. A. Forel. — Nummer 3 der periodischen Druckschrift «International, Nachrichtenblatt des internationalen Frauenausschusses für dauernden Frieden». — «An die Soldaten und jungen Leute» von Tolstoi und die nichtperiodische Druckschrift: «Räuberhauptmann Franz Hartmann, gennant der Höhlenwolf», Roman von Guido Fels».

Die Zusammenstellung ist erbaulich. Tolstoi, Forel, «Friedens-Warte» und «International» mit einem Hintertreppenroman. Der reine Vormärz übrigens. Wer hätte es noch für möglich gehalten, dass solch reaktionäre Zeit jemals wiederkehren könnte.

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Von zwei eigentümlichen Prozessen berichtet das «Berliner Tageblatt» (25. und 26. Juli). In dem einen Fall handelt es sich um den Windhund des Prinzen Sigismund von Preussen, im andern um die Damhirsche des Prinzen Friedrich Leopold von Preussen. Der Windhund hatte zweitausend Mark gekostet; ein Jäger, auf dessen Jagdgelände das kostbare Tier sich herumtrieb, hat es kurzerhand erschossen. Verurteilung zu 500 Mark Geldstrafe durch das Schöffengericht, Freisprechung vor der Strafkammer. In der Begründung der Revisionsinstanz hiess es: «So bedauerlich es auch sein, dass ein so wertvoller junger Hund erschossen wurde, so sei doch auf Freisprechung zu erkennen».

In der Zeit der Schlachten vor Verdun, an der Somme und in Wolhynien ist es ordentlich erfreulich, die Vernichtung jungen und wertvollen Lebens bedauert zu sehen, wenn es sich dabei auch nur um einen Hund handelt.

In dem andern Fall beklagt sich der geheime Regierungsrat und Professor Flamm aus Nikolassee bei Berlin über die Güterverwaltung des Prinzen Leopold. Der Regierungsrat hatte, um der Nahrungsmittelnot zu steuern, einen brach gelegenen Acker gepachtet, und diesen mit Kartoffeln bebaut. Aber die Damhirsche des benachbarten prinzlichen Reviers störten den Anbau. Monatelang hat nun der Regierungsrat um Errichtung eines absperrenden Zaunes bei der prinzlichen Gutsverwaltung petitioniert. Vergeblich. Die Damhirsche blieben unbehindert und vernichteten nach und nach den ganzen Kartoffelacker. Dann heisst es weiter in dem Aufsatz des Regierungsrats:

«Heute schreiben wir den 25. Juli; seit meinem ersten Antrag sind vier Monate vergangen, und noch heute wartet der Zaun, dessen zahlreiche Durchlässe sämtlich ohne Türen sind, auf seine Fertigstellung. Infolgedessen zieht das Damwild Nacht für Nacht über die Saat und hat sehr bedeutenden Schaden angerichtet; die Frühkartoffeln sind fast gänzlich vernichtet, an ihrer Stelle ist eine wüste Sandfläche. Nun kommen die Spätkartoffeln an die Reihe. Ich empfinde es als eine Missachtung, als einen bedauerlichen Mangel an Verständnis für die vaterländischen Interessen, wenn die prinzliche Verwaltung, trotz ihrer langen Erfahrungen und besonders derjenigen vom vergangenen Jahre und trotz der wiederholten Aufforderungen des Landratsamtes, bis heute nicht nur keinen wirksamen Abschluss der Waldungen vorgenommen hat, sondern es ruhig geschehen lässt, dass das Wild in starken Rudeln Nacht für Nacht die Saaten schädigt. Es erscheint mir in dieser schweren Kriegszeit, in der wir kaum die nötigsten Nahrungsmittel beschaffen können, in der viele Menschen schwer darben müssen, als ein öffentlicher Skandal, dass einem Sportinteresse die Feldfrüchte geopfert werden. Es erscheint mir als eine Pflicht der obersten Behörden, gegen diesen Zustand auf das nachdrücklichste einzuschreiten. Freilich der Prinz leidet keine Not, allein wir andern Staatsbürger wissen kaum, woher die Nahrungsmittel zu nehmen sind, und da müsste es doch zu verhüten sein, dass sorgsamste Feldarbeit nur geleistet wird, um jene Hirsche zu füttern! Es erscheint mir auf das höchste bedauerlich, dass die Güterverwaltung des Prinzen nicht von selbst die richtige Einsicht gezeigt hat. Als ich gegen den Wildschaden mich zu schützen suchte, wurde mir von allen Seiten mitgeteilt, dass ich gegen die prinzliche Verwaltung nicht aufkommen würde; ich hielt das in dieser schweren Kriegszeit für ausgeschlossen, weil das vaterländische Interesse mir zur Seite stehen würde. Leider habe ich mich getäuscht; die Hirsche, die nur dem Sport dienen, vernichten die Saaten völlig ungehindert wie in Friedenszeiten. Mir scheint, dass es hohe Zeit ist, solchen Zuständen dauernd ein Ende zu bereiten, wir leben doch heute im 20. Jahrhundert und nicht mehr im Mittelalter».

So der Regierungsrat und Professor. — Seine Berechnung ist falsch. Wir leben zwar im zwanzigsten Jahrhundert, aber noch mitten im Mittelalter, das wir fälschlich beendet wähnten. Aber nicht die Schikanen der prinzlichen Damhirsche allein beweisen dies. Das fürchterliche Ereignis, unter dem wir ächzen, ist Mittelalter, tiefstes Mittelalter.

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