Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 21. November.

Wenn etwas den Begriff Anachronismus zu veranschaulichen vermag so tat dies die Polendebatte im preussischen Abgeordnetenhaus. Als ob nichts vorgefallen wäre, wurden da von konservativer, nationalliberaler Seite und von der Regierung der Herrschaftgedanke und das Autoritätsprinzip vertreten. Man war sich anscheinend gar nicht bewusst, wie schädlich die altbekannte preussische Herrenpose die kurz vorher verkündete Befreiertat beeinträchtigt.

Ganz unbewusst hat der preussische Minister des Innern die Annexions- und Eroberungsabsichten der ihm nahestehenden Parteien verurteilt, wenn er sagte:

«Darüber ist kein Wort zu verlieren, dass dem preussischen Staat jeder Fußbreit Boden seiner östlichen, in jahrzehntelanger schwerer und fruchtbarer Verwaltungsarbeit gewonnenen Ostgrenzen heilig und unveräusserlich ist.»

So heilig ist aber auch den Belgiern, den Franzosen und allen andern ihr Boden. Weil man diese Einsicht aber nur für sich gelten lassen will und nicht für die andern, darum dieser wahnsinnige und endlose Mord Europas.

Die modernste und vernünftigste Rede hielt, soweit der Text aus den Zeitungen ersichtlich, der Sozialdemokrat Ströbel. Am Schluss seiner Ausführungen sagte er:

«Die polnischen Sozialisten lehnen es ab, von Deutschland ,befreit’ zu werden. Sie wollen ein unabhängiges Polen als Ergebnis der Verständigung unter den Völkern. Damit hat der gegenwärtige polnische Staat nichts, aber auch gar nichts zu tun. Es ist zu befürchten, dass mit der Neugründung ein künftiger Konflikt geschaffen wird, der einen neuen scheusslichen Weltkrieg heraufbeschwört. Der jetzige Krieg ist der Bankrott des Militarismus. Die Kriegshetzer sind immer noch an der Arbeit, wir müssen zu einer Verständigung kommen. (Schlussrufe). Sie wollen ja immer eine freie Aussprache haben, warum wollen Sie jetzt nichts hören? Das deutsche Volk wird Sie zur Verantwortung ziehen. Die Kriegshetzer sind die schlimmsten Schädlinge der Menschheit, der Auswurf der Menschheit.»

Es ist unfassbar, wieso der Minister darauf antworten konnte:

«Sie können von mir nicht erwarten, dass ich dem Vorredner aut seine zum grossen Teil unerhörten Ausführungen antworte. Die überwältigende Mehrheit des Hauses steht turmhoch über solchen Ausführungen, wie wir sie eben haben hören müssen. Ich würde mich herabwürdigen, wenn ich es für nötig fände, ein Wort darauf zu antworten. Es ist tief beschämend, dass in einem deutschen Parlament solche Reden gehalten werden können. Der Vorredner hat die Geschäfte der Feinde besorgt. Dos deutsche Volk wird sich aufbäumen gegen solche Ansichten, wie sie hier vorgebracht worden sind. Ich bin zu dieser Darstellung gezwungen, damit diese Rede nicht ohne Widerspruch in das Land hinausgeht.»

Wenn solche Worte die Macht hätten, die Toten zu erwecken, da gäbe es eine furchtbare Enttäuschung!