Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 30. Oktober.

Es geht mit kinematographischer Schnelligkeit. Die Selbständigkeitserklärung der tschechischen Republik ging gestern, unter begreiflichem Jubel, vor sich. Der Nationalrat hat die Regierung übernommen, die Armeebehörden haben sich ihm unterworfen, und der Statthalter von Böhmen hat sich nach Wien begeben. Ein Stück Weltgeschichte, das jemals zu erleben kein Zeitgenosse erwartet hat. Nicht einmal noch vor vier Wochen erwartet hat. Ich gönne dem begabten, hochkultivierten Tschechenvolk vom ganzen Herzen die erreichte Selbständigkeit. Doch die Einverleibung der deutschen Gebiete Böhmens in das neue Tschechenreich würde ich als ein Unglück betrachten. Neue Bildungen, die die Wirkung der Annexion Elsaß-Lothringens hätten, dürfen in die neue Welt nicht hinübergetragen werden. Wir haben die Alldeutschen bekämpft, die Anrechte auf Burgund geltend machten, weil vor Jahrhunderten dort ein deutscher König geherrscht. Wir können die nicht besser begründeten Ansprüche der Tschechen auf rein deutsche Gebiete nicht anerkennen.

Dasselbe gilt für die Ansprüche der Polen auf Danzig. Diese Vergewaltigungsideologien müssen fallengelassen werden bei einem Friedensschluss, der nicht bloß diesen Krieg beendigen soll, sondern alle Kriege!

Auch Kroatien hat sich selbständig erklärt. Und hohe kroatische Offiziere haben die Unterstützung der Armee gebracht. So bricht denn auch die Klammer der Armee auseinander. Damit hängt wohl auch die überraschende Mitteilung zusammen, das Österreich die Räumung der besetzen italienischen Gebiete beschlossen hat.

Es waren falsche Göller, denen die österreichischen und ungarischen Politiker geopfert hatten. Jene Müßiggänger, die einen Krieg als eine angenehme Zerstreuung betrachteten, haben in ihrer wahnsinnigen Borniertheit das vielhundertjährige Reich zerstört.

In Deutschland sieht man mit fieberhafter Spannung den Waffenstillstandsbedingungen der Entente entgegen. Man zittert davor und verwahrt sich gegen die Zumutung eines Gewaltfriedens, der die Grundlagen eines Völkerbundes zerstören würde. Dernburg hat im «Volksbund für Freiheit und Vaterland» in Berlin über das Thema «Völkerbund und Frieden» gesprochen. Er hat auf Kant hingewiesen, dessen heute so aktuell gewordene Schrift beweise, dass der Völkerbundgedanke nicht von außen in das deutsche Volk hineingetragen würde. Er hätte sich auch auf die deutsche Friedensgesellschaft berufen können, die seit 26 Jahren dafür wirkt, und auf die Arbeit der deutschen Pazifisten, die unter dem Hohengelächter und unter den Verfolgungen der von Krupp bezahlten Wehrvereinler für diesen Gedanken kämpften. Wenn er es nicht getan hat, so unterließ er es wahrscheinlich weil die Mallung der Mehrheit des deutschen Volkes zu dieser Arbeit heute etwas Beschämendes besitzt.

Es ist aber eine seltsame Satire der Weltgeschichte dass die Mittelmächte, die der pazifistischen Arbeit am meisten ablehnend gegenüberstanden, gerade in der Erfüllung der urpazifistischen Idee des Völkerbundes jetzt ihre einzige Rettung erblicken. So musste es kommen!