Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 11. November.

Wieder um ein Jahr älter. — Und heute vor einem Jahr fiel Marschall v. Biberstein. — Der Friedensoptimismus von Mitte Oktober hat einem starken Pessimismus Platz gemacht. Aus der Ententepresse tönt eine kühne Entschlossenheit, den Krieg bis ins Unendliche weiterzuführen. Mit staunenerregender Sicherheit wird dort der endliche Sieg verkündet. Es ist Tatsache, dass es trotz der grossen Siege Deutschlands noch keinen Besiegten gibt. Als besiegt kann nur immer jenes Gebiet angesehen werden, das gerade besetzt ist. So umfangreich diese Gebiete auch sind, sie sind nicht umfangreich genug, um den Willen der Regierungen zu beugen. Das sind die veränderten Folgen der modernen Waffentechnik, dass der «Stoss ins Herz», der früher die Kriege entschied, jetzt so schwer, vielleicht unmöglich geworden ist. Johann v. Bloch hat es vorhergesagt. Im übrigen ist die Friedensabneigung eine Komödie der Diplomatie. Die Menschheit brüllt nach Frieden. In allen Ländern. Nur die bestellten Geschäftsführer der Menschheit tun so, als ob niemand nur im entferntesten an den Frieden dächte.

Im englischen Oberhaus hat gestern einer der Unsern, der Pazifist Lord Courtney of Penwith das richtige Wort gefunden. Vaterlandsliebe sei nicht das allein Notwendige in diesem Augenblick; er sehe den Ruin der europäischen Kultur voraus, wenn dem Krieg nicht bald ein Ende gemacht würde. Er riet zu Friedensverhandlungen. Seiner Rede folgte eisiges Schweigen. Und doch war das die Stimme der Vernunft, die Stimme des Menschenfreundes, der eben weil er Menschenfreund ist, Patriot ist. Es handelt sich wirklich nicht mehr um den entscheidenden Sieg der einen oder andern Gruppe, sondern um das Sein oder Nichtsein der europäischen Kultur. Ein entscheidender Sieg kann nur auf den Trümmern Europas errungen werden.

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Die Firma Krupp in Essen hat den mehrere Millionen betragenden erhöhten Gewinnüberschuss, den sie während des verflossenen Geschäftsjahres aus Kriegslieferungen erzielte, für soziale Aufgaben und für die Zwecke der Kriegsfürsorge bestimmt. Das ist gewiss vornehm gehandelt. Dennoch wäre es für die Menschheit besser, die Krupps aller Länder wären auf Wohlfahrtseinrichtungen angewiesen, als dass sie in der Lage sind, Wohlfahrtseinrichtungen zu stiften. Ihre Freigiebigkeit hat den Ruin der Völker zur Grundlage.

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Herr Professor Dr. Karl von Amira in München findet es angebracht, die an ihn ergangene Einladung zu dem Berner Studienkongress in Form eines «Offenen Briefes» an die «Internationale Zentralorganisation für dauernden Frieden» in den «Münchener Neuesten Nachrichten» brüsk zurückzuweisen. Der Ton dieser «Kundgebung» ist einfach widerlich. Der Münchener Gelehrte spricht davon, dass man ihn auf den Leim locken wolle, spricht von den «Drahtziehern» jener Organisation, von einem «Geflunker mehr oder weniger», auf das es ihr nicht ankomme, von der Absicht, dem deutschen Michel «das Fell über die Ohren zu ziehen» und ähnlichem mehr.

Zu Eingang des «offenen Briefs» dieses gutgesinnten Intelektuellen heisst es:

«An mich richten Sie Ihre Einladung in der Annahme, dass ich Vorstandsmitglied des Verbandes für internationale Verständigung sei. Diese Annahme ist ein Irrtum. Ich bin weder Vorstandsmitglied, noch überhaupt Mitglied jenes Verbandes. Ich bin längst aus ihm ausgetreten, weil ich davon überzeugt bin, dass seine — zweifellos sehr gut gemeinten — Bemühungen nach dem gegenwärtigen Weltkrieg keine Zukunft mehr haben» usw.

Es ist dies ein typischer Fall für den Bankrott des — nennen wir ihn Conciliationismus, auf dessen Entwicklung wir vor dem Krieg so grosse Hoffnungen gesetzt hatten. Ich selbst habe diese Bewegung in Deutschland angeregt, und gestehe offen ein, dass ich mich damit getäuscht habe. Trotzdem war sie vor dem Krieg berechtigt. Wir durften hoffen, durch die Organisierung des Geheimratspazifismus, durch die Zusammenführung der halben und Viertelpazifisten in besonderen Verbänden, diese, erstens, in den Dienst unserer Sache zu stellen, indem wir ihren sozialen Einfluss ausnutzten, zweitens sie immer mehr für unsere Ideen zu gewinnen, schliesslich so aus den Halben Ganze zu machen. Diese Hoffnung hätte sich erfüllt, wenn uns noch ein Jahrzehnt für unsere Arbeit gegönnt gewesen wäre. Der Krieg hat aber das Werk zerstört. Die Halben fielen um. Sie wollen jetzt alle nichts mehr von ihrem Flirt mit dem Pazifismus wissen. Und wir nichts mehr von ihnen. Nichts mehr! Nach dem Krieg kann es keine Friedensbewegung der Halben mehr geben. Wer sich lediglich für nützliche Völkerverständigung einsetzt, ohne den Krieg grundsätzlich zu verwerfen, wer sich als Völkerrechtler für den Ausbau des Kriegsrechts einsetzt, ohne den Betrug zuzugeben, der nach diesem Zusammenbruch der Kriegshumanisierung und Kriegsregulierung darin erkannt ist, gehört einfach zu den direkten Widersachern der Friedensbewegung und muss mit aller Kraft bekämpft werden. Diese Talmi-Pazifisten sind fortan unsere ärgsten Feinde.