Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 25. November.

Oh, du mein Österreich! — Gerade nach diesem unerhörten Bettelversuch, der eine Schande für ein Kulturland ist, kommt mir heute ein «Wiener Brief» des «Bund» (25.  November) zu Gesicht, der sich bemüht, die Verhältnisse in Wien in einer Art Dulliäh-Stimmung wiederzugeben.

«So unglaublich es scheint», heisst es da, «das Geld ist in Hülle und Fülle vorhanden, denn man hat allseits sonst festliegende Werte zu mobilisieren verstanden, und das Geld setzt sich jetzt schon infolge der steigenden Nachfrage nach Arbeitern und wegen der vielfach erhöhten Preise weit rascher als sonst um».

Also glänzend! Auch sonst geht es ausgezeichnet. Der Besuch der Theater und Konzerte «lässt nichts zu wünschen übrig. Sie sind fast stets voll, und dies gilt auch von den Restaurants, Cafés und Variétés». Kann es etwas Leichteres geben als solch einen Krieg? Wo sind die Narren, die uns die Folgen eines Krieges stets so schwarz gemalt haben? — Mit solchen Berichten sollen Gräber und Elend übertüncht werden. Gar bald wird es sich zeigen, was es mit diesem so lebhaft kursierenden Geld für eine Bewandtnis hat, und dass die Caféhäuser voll sind, diese Stätten des Müssiggangs, diese Behelfe zur Betäubung des Elends und der Verzweiflung, ist mir kein Zeichen des Aufschwungs. Und man denke: «Es dürfte wohl einzig dastehen, dass es einem Zeitungsunternehmen — der ,Neuen Freien Presse’ — gelang, mehr als fünf Millionen Kronen für die verschiedensten Wohltätigkeitsinstitutionen zusammenzubringen». Sehr schön. Ein Rekord. Für das Blatt eine wunderbare Reklame, denn es zeigt, dass es auf die besitzenden Kreise mehr Einfluss hat als alle anderen Wiener Blätter zusammen, die insgesamt kaum eine Million aufbrachten. Mehr bedeuten diese fünf Millionen nicht. In der Zeit, in der diese Summe zur Linderung der Not zusammengebracht wurde, hat der Krieg, der diese Not erzeugt, 30 Milliarden gefressen, hat er solche fünf Millionen in zwei Stunden aufgezehrt. Was bedeutet diese Summe im Vergleich zu dem vorhandenen Elend? Hat man einen Berg verkleinert, wenn man einen Wagen voll Steine wegführt?