Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 31. Dezember.

Die Verhandlungen in Brest-Litowsk sind am 29. Dezember an einem wichtigen Punkt angelangt. Die Zentralmächte, die nicht annektieren wollen, wünschen, dass für Polen, Litauen, Kurland, für Teile von Esthland und Livland der Volkswille als bereits ausgedrückt angenommen werden soll, wenn diese Teile des russischen Reichs volle staatliche Selbständigkeit in Anspruch nehmen wollen. Die russische Delegation jedoch will den tatsächlichen Ausdruck des Volkswillens nur dann anerkennen, wenn dieser in einer freien Abstimmung «bei gänzlicher Abwesenheit fremder Truppen» zum Ausdruck gebracht würde. Hier öffnet sich ein klaffender Gegensafe, der eine Probe auf die Ehrlichkeit der demokratischen Anschauungen bilden wird. Vorläufig Vertagung bis zum 5. Januar. Vielleicht rechnet man deutscherseits, dass der Kanonendonner im Westen dazu beitragen wird, auch diesen Konflikt zu überwinden.

Ein kurzer Rückblick auf die hauptsächlichsten Ereignisse, die in der Zeit vom 24. November bis 24. Dezember vor sich gingen, ist hier am Platze, ehe wiedereines der verfluchten Jahre dahinschwindel.

Zuerst dies Botschaft Wilsons an den Kongress. Harte Worte gegen die herrschenden deutschen Kreise, die er als Hindernis jeder Pazifikation bezeichnet. Aber er sagte auch:

«Wir sind dem deutschen Reich nicht bös gesinnt, Und wir wollen uns nicht in seine inneren Angelegenheiten mischen.»

Sonst eine durch und durch ernste, höchst beherzigenswerte Rede. Ein Evangelium demokratischen Glaubens. Und das Wolff-Bureau weiß im neutralen Ausland nichts anderes darüber zu verbreiten als folgende paar Worte:

«Berlin, 7. Dezember. Die deutschen Blätter behandeln übereinstimmend die Botschaft Wilsons als eine würdelose Kundgebung, deren Inhalt nichts sei als geschwollene Phrasen von lächerlichster Verlogenheit.»

Diese Lausbubenarroganz ist nicht mehr mit der Kriegspsychose zu entschuldigen. Für sie ist eine öffentliche Auspeitschung die einzige Remedur.

Ein Lichtblick der Brief des Lord Landsdowne an den «Daily Telegraph », worin der konservative Parteiführer zu einem Frieden rät. Er sagte:

«Die Sicherheit ist unschätzbar für eine Welt, die noch Lebenskraft besitzt, um daraus Nutzen zu ziehen. Aber was nützen die Segnungen des Friedens den Völkern, die so erschöpft sind, dass sie kaum mehr die Hand ausstrecken können, um nach ihnen zu greifen? Nach meiner Meinung wird der Krieg schließlich beendet werden, weil die Völker der Länder, die daran beteiligt sind, einsehen, dass er schon zu lange dauerte. »

Das klingt doch anders, als das öde Siegesverkündigungsgerede Lloyd Georges. Es beweiset, dass die ruhig denkenden Köpfe nicht ausgestorben sind in den kriegführenden Ländern. Sie werden eines Tags die Herrschaft erringen. Wenn's dann nur nicht zu spät ist.

Durch die Veröffentlichung der Geheimakten seitens der Maximalisten in Petersburg erfuhr man, dass im September dieses Jahres infolge einer neutralen Vermittlung England und Deutschland sich befreit erklärt hatten, in Verhandlungen zu treten. Aber plötzlich blieben die Äußerungen von deutscher Seite aus. Man wird nicht fehl gehen, wenn man annimmt, dass die militärischen Friedenshasser, diese Verständigungsmöglichkeit vereitelt haben, da sie bereits die Offensive gegen Italien im Schilde führten und sich bei ihren Plänen von solchen Albernheiten wie Verhandlungen nicht stören lassen wollten. Das wäre nicht zum ersten Mal der Fall gewesen.

Nun noch ein Wort zum Nobelpreis. Er wurde zum ersten Mal seit Kriegsausbruch vergeben. Das Genfer Komittee vom Roten Kreuz erhielt ihn. Die Zustimmung war wirklich international und allgemein. Vom pazifistischen Standpunkt muss anders geurteilt werden. Der Nobelpreis besteht nicht allein in einer Summe, sondern — und in erster Linie — in einer Auszeichnung. Dem Wohltätigkeitsinstitut in Genf ist die Summe für seine aufopfernde und nützliche Arbeit sicher zu gönnen. Die Auszeichnung jedoch ist für pazifistische Leistungen gedacht, und eine solche liegt hier nicht vor. Das Genfer Rote Kreuz hat die dankenswerte Aufgabe unternommen, den Krieg zu lindern. Es hat viel Leid gelindert. Unendlich wenig jedoch im Verhältnis zu dem Ozean von Leid, das der Krieg gezeitigt hat. Dieses ungeheure Leid ist nur zu überwinden, indem man den Krieg überwindet, indem man ihm vorbeugt. Dies zu erreichen ist die Aufgabe und das Streben des Pazifismus. Das Rote Kreuz arbeitet diesem Streben im gewissen Sinn entgegen, in sofern als es bei der weitaus großen Mehrheit der nichtdenkenden Menschheit den Wahn aufrecht erhält, dass die mäßige Linderung der Kriegsleiden, die Menschen zu gewähren vermögen, alles ist, was zur Bekämpfung des Kriegs getan werden kann. Dieser Kleinmut und dieser Aberglaube bilden aber die größten Hemmnisse für die Entwicklung jener Psyche, die der Pazifismus für seinen Erfolg benötigt. Ein reibender Strom, der über die Ufer tritt, labt sich nicht mit löffelweisem Abschöpfen des Wassers überwinden, aber ableiten, regulieren lässt er sich. Die Nobelauszeichnung für das Genfer Rote Kreuz war eine generöse Tat, vom Standpunkt der radikalen Kriegsbekämpfung jedoch ein Fehler.